Interview mit dem Südtiroler LH Arno Kompatscher

Arno Kompatscher ist seit 9. Jänner 2014 Landeshauptmann von Südtirol. Wir sprachen mit ihm über die Flüchtlingskrise, Autonomie, die Wirtschaft und seine große Familie.

Herr Landeshauptmann, Südtirols Wirtschaft wird in Nord- und Osttirol vielfach als vorbildlich angesehen. Wie hat sich Südtirol in der Wirtschaftskrise behauptet?

Südtirol ist keine Insel. Somit ist auch die Wirtschaftskrise an uns nicht spurlos vorübergegangen. Ab 2011 verzeichneten auch wir steigende Arbeitslosenzahlen. Im gesamteuropäischen Vergleich konnte man zwar noch immer von einem niedrigem Niveau sprechen. Trotzdem lag der Wert zum Zeitpunkt meines Amtsantrittes schon bei 4,8%. Ungleich höher fiel leider die Jugendarbeitslosigkeit aus – mit über 12% keine erfreuliche Entwicklung. Die Aussichten waren düster, die Nachfrage stagnierte. Inzwischen konnten wir viele Maßnahmen setzen, vor allem Steuersenkungen, insbesondere bei jenen Steuern, die auf der Arbeitskraft lasten. Wir haben die Wirtschaftsförderung neu konzipiert und ein starkes Investitionsprogramm genehmigt, insbesondere im Wohnbau. Das Resultat ist, dass wir die Arbeitslosigkeit auf 3,8 Prozent reduzieren konnten und dass die Tendenz weiter nach unten zeigt. Unser Ziel ist es, das Vorkrisen-Niveau zu erreichen. Derzeit orten wir in allen Sektoren positive Zukunftsperspektiven und eine gute Stimmung, selbst in der Baubranche, die am meisten gelitten hat. Insgesamt sind wir also, wie ich glaube, wirtschaftlich wieder sehr gut aufgestellt. Das Bruttoinlandsprodukt hat 2014 knapp 40.000 Euro pro Kopf erreicht. Wir liegen damit in Italien an erster Stelle, aber auch im europäischen Vergleich sehr weit vorne.

Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Bezirk Lienz? Wie können beide Regionen voneinander profitieren?

Die Zusammenarbeit mit Osttirol ist zum einen deswegen besonders relevant, weil es eine Reihe von Südtiroler Unternehmen gibt, die sich im Bezirk Lienz angesiedelt haben. Dies sehe ich – im Sinne der Europaregion Tirol – als durchaus positive Entwicklung an. In Südtirol spricht man zwar des Öfteren von einer Abwanderung von Betrieben, doch sollten wir uns bemühen, auch über unseren eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Diese Unternehmen sind schließlich weiterhin auch in Südtirol engagiert. Des Weiteren stehen interessante gemeinsame Projekte für die Zukunft an, wie zum Beispiel der Zusammenschluss der Skigebiete Sexten und Sillian. Faktum ist, dass auch der grenzüberschreitende Radtourismus  in Kombination mit der Bahn sehr gut funktioniert. Begrüßenswert ist es aus meiner Sicht, dass mit dem neuen Mechatronik-Unilehrgang in Lienz auch der Bevölkerung des Südtiroler Pustertales beste Ausbildungsmöglichkeiten offen stehen werden. Darüber hinaus arbeiten wir gemeinsam an diversen Interreg-Projekten. Wir sollten in bewährter Art und Weise weiter in unsere Zusammenarbeit investieren und den gemeinsam eingeschlagenen Weg fortsetzen.

Touristisch hat sich die Marke Südtirol sehr gut etabliert. Sehen Sie das auch so?

Ich denke, dass die Destinationen Tirol und Südtirol beide nicht schlecht aufgestellt sind. In der Marketingarbeit ist es wichtig, dass man die Kräfte bündelt und nicht nur einzelne Hotels oder Dörfer bewirbt. Wir haben einige Zeit dafür benötigt, das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Dachmarke „Südtirol“ sprichwörtlich jenes Pferd ist, auf das man setzen sollte. Inzwischen ist die Marke sehr gut positioniert – vor allem imagemäßig. Der Bekanntheitsgrad ist noch ausbaufähig. Wir möchten Südtirol jedoch nicht ausschließlich als touristische Marke sehen, sondern wollen auch ein Lebensgefühl damit verknüpfen. Südtirol bedeutet auch Handwerk, gutes Essen, eine eigene Lebensart, den Zugang zur Natur. Vor allem aber geht es um Qualität und Authentizität. Unser Land wirbt für die Produkte, und die Produkte werben für das Land. Dies gilt für den Wein, für das Obst und den Speck ebenso wie für das Joghurt, das inzwischen zu einem wichtigen Werbeträger avanciert ist.

Wie sehen Sie die aktuellen Entwicklungen in der Flüchtlingskrise und die Forderung von LH Günther Platter, dass die auf der Balkanroute gesetzten Maßnahmen auch für jene durch und über Italien gelten müssten?

Wir stehen in dieser Frage in engem Kontakt mit den Tiroler Behörden sowie mit dem österreichischen und italienischen Innenministerium. Wir sind bestrebt, das Grenzmanagement so zu organisieren, dass eine geringstmögliche Beeinträchtigung des Personen- und Warenverkehrs an den Grenzübergängen nach Österreich, v.a. am Brenner, aber auch in Sillian, gewährleistet wird. Der Brenner ist nicht mit Spielfeld vergleichbar, sondern ein wesentliche wichtigerer Grenzübergang mit rund 10 Millionen Fahrzeugen jährlich. Natürlich bereiten wir uns organisatorisch auf einen möglichen Flüchtlingsstrom vor. Zwei Fahrspuren sollten aufrecht bleiben, die Kontrolle der Lkw weiterhin möglichst reibungslos ablaufen.

Wie wollen Sie in Südtirol einen möglichen „Rückstau“ verhindern?

Im Rahmen der Euregio Task-Force besteht eine enge Kooperation zwischen Tiroler und Südtiroler Polizeikräften. Dies gilt auch für die Verantwortlichen in den Landesämtern. Mit im Boot ist auch das Trentino, das eventuell als Pufferzone fungieren könnte. Mögliche Grenzkontrollen zielen darauf ab, dass die von der österreichischen Bundesregierung genannten Kontingente gesichert sind. Österreich hat erklärt, täglich 3.200 Flüchtlinge durch- und 80 Asylantragsteller zuzulassen. Der Brenner wird eventuell einen Anteil davon bewältigen müssen, je nachdem wie sich die Flüchtlingsströme entwickeln. Uns geht es darum, dass wir so frühzeitig wie möglich die Informationen erhalten, ob dieses Tageskontingent am Brenner ausgeschöpft wird. Wir müssen dann die zeitweilige Unterbringung der betroffenen Personen organisieren. Wichtig wird es auch sein, in Richtung südliches Italien zu kommunizieren, dass keine weiteren Flüchtlinge mehr durchgelassen werden. Wir wollen verhindern, dass die Menschen irgendwo in Südtirol stranden. Die von mir geforderte frühzeitige Absprache sehe ich als Voraussetzung dafür, dass es nicht zu humanitär prekären Situationen kommt. In dieser Frage spielen auch die Kasernen, wie etwa in Brixen, eine Rolle. Die Menschen, die zwischenzeitlich feststecken, sollten dort betreut werden, bevor sie am nächsten oder übernächsten Tag weiterreisen können. Grundsätzlich pochen wir aber darauf, dass das Schengen-Abkommen baldmöglichst wieder umgesetzt wird. Das heißt, es geht um sichere europäische Außengrenzen und freie Grenzen nach innen. Dies zu gewährleisten sollte Ziel einer gemeinsamen europäischen Anstrengung sein. Wir dürfen auch Griechenland nicht alleine lassen. Vor allem aber muss sich Europa bemühen, die Ursachen für die Flucht in den Herkunftsländern zu bekämpfen. Schengen ist für uns alle eine bedeutende Errungenschaft, die man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollte.

Könnten die Werte der Euregio in Folge von Grenzkontrollen gefährdet sein?

Meine Kollegen Günther Platter in Tirol und Ugo Rossi in Trient haben, ebenso wie ich, immer betont, dass die Euregio an diesen gemeinsamen Herausforderungen nur wachsen kann. Wir können jetzt in dieser herausfordernden Lage unter Beweis stellen, dass wir vor allem dann gut zusammenarbeiten, wenn es darauf ankommt – und nicht nur im Rahmen von Sonntagsreden.

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„Italien darf nie vergessen, dass es in Bezug auf Südtirol eine völkerrechtliche Verpflichtung gegenüber Österreich hat.“

Stichwort Südtirol-Autonomie: Viele sehen im hohen Maß an Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung der Provinz Bozen eine besonders gelungene Form der Selbstbestimmung. Gibt es in dieser Angelegenheit trotzdem noch etwas zu tun?

Natürlich, hier gibt es noch sehr viel zu tun. Südtirol wird international als sehr gelungenes, vielleicht sogar als das Best-Practice-Beispiel für die Lösung einer derartigen Frage gesehen. Trotzdem dürfen wir uns nicht mit dem zufrieden geben, was wir schon erreicht haben. Wir möchten auf dem Wege der Autonomie die höchstmögliche Selbstverwaltung und Selbstbestimmung erzielen. Wir arbeiten in Rom intensiv daran, unser Land noch selbstständiger und freier zu verwalten – auch weil wir glauben, dass wir das gut machen.

Wie sehen Sie die Rolle der Schutzmacht Österreich? Auf der einen Seite gibt es die historische Verantwortung Österreichs gegenüber Südtirol. Andererseits fragen sich viele, was Österreich in Südtirol schützen soll.

Die Schutzfunktion ist immer noch hochaktuell. Bei den jüngsten Finanzverhandlungen mit Rom war es für mich Bedingung, dass die Schutzfunktion – also auch der Bezug zum Gruber-De Gasperi-Abkommen und zur Streitbeilegungserklärung von 1992 – im bilateralen Verhältnis zwischen Österreich und Italien verankert bleibt. Ansonsten wäre die Südtirol-Frage rasch eine rein inneritalienische Angelegenheit und abhängig von der Stimmungslage im römischen Parlament – und diese präsentiert sich meist nicht sehr autonomie- oder minderheitenfreundlich. Italien darf nie vergessen, dass es in Bezug auf Südtirol eine völkerrechtliche Verpflichtung gegenüber Österreich hat. Den Briefwechsel zwischen Ministerpräsident Matteo Renzi und Kanzler Werner Faymann, der das Finanzabkommen auf diese Ebene gehoben hat, betrachte ich in dieser Hinsicht als wichtigen Meilenstein.

Wie werden die immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Doppelstaatsbürgerschaft für SüdtirolerInnen begründet?

Hier geht es in erster Linie darum, dass wir Angehörige der österreichischen Minderheit in Italien sind. Es ist eine historische Tatsache, dass Südtirol bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Teil Österreichs war. Diese Frage hat nichts mit der völkerrechtlichen Schutzfunktion der Republik Österreich, sondern vielmehr mit unserem Zugehörigkeitsgefühl zu tun. Die Doppelstaatsbürgerschaft ist deshalb eines unserer politischen Herzensanliegen.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Sie sind am 1. März zum siebten Mal Vater geworden. Eine so große Familie bedeutet doch sicherlich Herausforderung und Kraftquell zugleich?

Die Familienarbeit bewältigt in erster Linie meine wunderbare Frau. Was sicherlich stimmt ist, dass ich sehr viel Kraft aus meiner Familie schöpfen kann. Ich sage immer: Von Montag bis Samstag bin ich mit 200% für das Land da, der Sonntag soll aber weitestgehend meiner Familie gehören. Ich sehe in einer Großfamilie viele Vorteile: Die großen Kinder helfen mit, die kleineren zu erziehen. Kinder begreifen schnell. Die Erkenntnis, dass man sozial interagieren muss, hilft ihnen sicher auch im späteren Leben.

Interview: Raimund Mühlburger, Fotos: LPA/Ohnewein, Expa/Groder

25. März 2016 um