Dr. Gernot Walder: „50 Prozent aller Masken werden falsch getragen!“

Wir fragten den Osttiroler Virologen, warum die zweite Welle den Bezirk Lienz so hart trifft, ab wann Massentests Sinn machen und was er von den aktuell bekannten Impfungen hält.

In seinem Labor im Villgratental wertet Dr. Gernot Walder, Facharzt für Hygiene, Mikrobiologie, Infektiologie und Tropenmedizin, gemeinsam mit seinen MitarbeiterInnen, aktuell nicht nur durchschnittlich zwischen 600 und 700 PCR-Tests pro Tag aus, sondern spürt im Rahmen intensiver Forschungstätigkeit auch den Besonderheiten des SARS-CoV-2 nach, um daraus Erkenntnisse für die Bekämpfung des Erregers zu gewinnen.

Herr Dr. Walder, im Bezirksvergleich der 7-Tages-Inzidenz liegt Osttirol zum Zeitpunkt unseres Gespräches im Spitzenfeld aller Bezirke in Österreich. Warum ist aus dem einstigen „Vorzeigebezirk“ nun eine Region mit extrem hohen Werten an Neuinfizierten geworden?

Ende Oktober/Anfang November gab es relativ viele Infektionseinträge aus Nord- und Südtirol, aus Wien, Salzburg und anderen Gebieten nach Osttirol. Die meisten der daraus entstehenden Cluster konnten zunächst relativ gut eingegrenzt werden. Es war jedoch klar, dass mit der Zunahme der Fallzahlen irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem die Kontakte nicht mehr rechtzeitig nachverfolgt und die Seuchenketten nicht mehr durchbrochen werden können. Dies war im Bezirk Lienz in der Woche vom 26. Oktober bis 1. November der Fall. Ab diesem Zeitpunkt ist das Virus zirkuliert und sind die Zahlen entsprechend hinaufgeschnellt. Im Augenblick liegen wir stabil bei etwa 50 Erstdiagnosen pro Tag, und ich gehe grundsätzlich einmal davon aus, dass dieser Wert in der Folge sinken sollte. Am Beispiel Osttirol ist jedoch deutlich geworden,wie wichtig es ist, die  Kontakte von Infizierten sehr zeitnah und über einen längeren Zeitraum hinweg zurück zu verfolgen. Wenn die entsprechenden Angaben positiv Getesteter nicht verlässlich erfolgen, dann kommt es, wie wir gesehen haben, sehr schnell zu einem dynamischen Geschehen.

Könnte es auch eine Rolle spielen, dass das Virus und seine Folgen – im Gegensatz zum Frühjahr – von einem doch nicht unbeträchtlichen Teil der Menschen nicht mehr ernst genommen werden?

Mein Eindruck ist, dass nicht nachhaltig und nicht ausreichend genug kommuniziert wurde, dass die Eindämmung der Pandemie eine gemeinsame Leistung aller sein muss. Es ist nicht gelungen, das zu einem Anliegen der gesamten Bevölkerung zu machen!

Wie hoch glauben Sie, ist die Dunkelziffer in Bezirk Lienz und welche Rolle spielen asymptomatisch Infizierte bei der Verbreitung des Erregers?

Ich glaube nicht, dass es derzeit im Bezirk eine hohe Dunkelziffer gibt und würde zusätzlich zu den aktuell nachgewiesenen rund 680 Fällen noch von etwa 50 bis 100 weiteren ausgehen. Befinden sich allerdings unter diesen, uns nicht bekannten Personen viele asymptomatisch Infizierte und sind diese hochinfektiös, dann ist von einer weiteren Verbreitung auszugehen. Diesbezüglich möchte ich auf eine Infektionskette verweisen, die wir hier im Bezirk eruiert haben: Rund 100 Fälle gehen alleine auf eine Person zurück, die mit einem negativen Testergebnis nach Osttirol einreiste, das sich jedoch im Nachhinein als falsch negativ erwiesen hat.

 

Foto: AdobeStock/Alexander Raths

 

Wenn dem so ist, könnte dann eine Durchtestung der Bevölkerung, wie sie am kommenden Wochenende in Tirol geplant ist, nicht ein probates Mittel sein, diese asymptomatisch Infizierten herauszufiltern?

Massentests, wie die nun unmittelbar bevorstehenden, sind grundsätzlich eine Momentaufnahme und nur bedingt dazu geeignet, ins Infektionsgeschehen eingreifen zu können. Natürlich werden wir Personen entdecken, die ansteckend sind. Das ist grundsätzlich positiv. Um die Welle jedoch wirklich und dauerhaft brechen zu können, müssten die Tests im Abstand von acht Tagen wiederholt werden. Hinzu kommt, dass die Aussagekraft der Antigen-Schnelltests von einigen Faktoren abhängt, wie z.B. von der Qualität, die je nach Hersteller variiert, und davon, ob die Testungen auch richtig durchgeführt werden. Eine falsche Anwendung kann potenziell zu einem falschen Ergebnis führen, weshalb die Testungen unbedingt in die Hände von zuvor geschulten Personen gehören. Wichtig ist natürlich auch, dass sich ein möglichst hoher Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt an den Massentests beteiligt.

Vermittelt das Beispiel Südtirol, wo rund 350.000 Menschen getestet und nur rund 0,9 Prozent positiv waren, dann überhaupt ein reelles Bild?

Prinzipiell ist dieses Resultat zur Kenntnis zu nehmen. Ich persönlich hätte mir allerdings eine höhere Zahl an Infizierten erwartet. Um das Ergebnis der Südtiroler Massentests wirklich bewerten zu können, müsste man Einblick in die genauen Abläufe haben. Nachdem dies nicht der Fall ist, halte ich die Zahlen zwar nicht für unglaubwürdig, gehe aber von einer gewissen Unschärfe aus. Wenn die Tests in Österreich nun nicht wiederholt werden sollten, was bringt dann eine einmalige Massentestung? Sie kann uns Orientierung bieten und Hinweise für ein weiteres Vorgehen liefern – und sie kann die Welle zumindest verlangsamen. Es wäre aber eine zu hoch geschraubte Erwartung, zu glauben, dass mit einer einmaligen Massentestung und mit der Quarantäne der dabei identifizierten Fälle eine Seuchenfreiheit zu erzielen ist.

Sie werten in Ihrem Labor in Außervillgraten aktuell ausschließlich PCR-Tests aus. Wie viele sind es durchschnittlich pro Tag und waren Sie auch in die PCR-Testungen in Südtirol involviert?

Neben den Corona-Abstrichen, die uns u.a. von der Teststrecke in Lienz übermittelt werden, bearbeiten wir auch PCR-Testungen aus Südtirol, aus Kärnten und Nordtirol. Im Schnitt haben ich und mein Labor-Team – aktuell über 20 MitarbeiterInnen – im vergangenen Monat zwischen 600 und 700 Proben pro Tag analysiert.

Wenn eine PCR-Probe positiv ist, wie wird die Infektiosität, also die Frage, wie ansteckend die jeweilige Person ist, geklärt?

Im Labor in Außervillgraten messen wir mit der PCR auch die Viruslast, d.h. wir führen Standards mit, die uns erlauben, die Menge der Viren im Abstrich zu bestimmen. Im Rückblick auf alle bis dato ausgewerteten, positiven Ergebnisse kann man sagen, dass weniger als ein Drittel der Patienten hochinfektiös ist. Ein Drittel der Infizierten ist mäßig ansteckend. Der Rest infiziert niemanden.

Wie wichtig ist – jenseits von Massentests – eine regelmäßige Durchtestung von Risikogruppen sowie von Mitarbeitern von Wohn- und Pflegeheimen, Krankenhäusern bzw. Sozialsprengeln?

Diese betrachte ich als essenziell! Nur wenn die Regelmäßigkeit dieser Tests gewährleistet ist, kann der Schutz vulnerabler Personen, also jener, die nach bisherigen Erkenntnissen ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, gesichert werden.

 

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Wie schätzen Sie prinzipiell die  Schutzwirkung von Masken ein?

Geprüfte, korrekt getragene Masken – sowohl chirurgische, als auch FFP2 – bieten Schutz und reduzieren das Infektionsrisiko deutlich! Nicht gut anliegende Masken ohne Steg, Visiere oder Masken, die die Nase nicht bedecken, tun dies jedoch nicht. Leider werden mindestens 50 Prozent aller Masken falsch getragen. Ein simples, sehr häufig auftretendes Beispiel dazu: Wenn sich bei Brillenträgern das Glas beschlägt, handelt es sich eindeutig um eine inkorrekte Verwendung der Schutzmaske.

Es ist Teil des wissenschaftlichen Alltages, Erkenntnisse zu hinterfragen, zu evaluieren und das Wissen laufend zu erweitern. Was weiß man heute über das Corona-Virus, was im Frühjahr 2020 noch nicht bekannt war?

Wir wissen um einiges mehr, haben dazugelernt und auch einiges revidiert. Zunächst hat sich herausgestellt, dass der Organotropismus des Keims wesentlich komplexer als bei anderen respiratorischen Viren ist. Hinzu kommt, dass sich SARS-CoV-2 in vielfältiger Weise und nicht nur in der Lunge, sondern auch in anderen Organsystemen manifestieren kann. Das Übertragungsrisiko und die Verläufe von Covid-19-Erkrankungen präsentieren sich bei Weitem nicht so homogen wie jene bei Influenza-Viren. Bei einer Influenza bricht die Krankheit relativ rasch aus, und der Patient ist zwischen dem zweiten und fünften Tag hoch ansteckend. Nach durchschnittlich zehn Tagen klingt die echte Grippe ab. Corona-Viren weisen hingegen eine wesentlich längere Inkubationszeit auf. Die mittlere Inkubationszeit wird in den meisten Studien mit fünf bis sechs Tagen angegeben, sie kann sich jedoch auf bis zu zwei Wochen erstrecken.

Nicht homogen ist auch die Ansteckungsfähigkeit: Diese kann bereits nach 24 Stunden oder erst nach acht Tagen relevant sein – und sie ist, wie bereits ausgeführt, von Person zu Person verschieden. Frauen und Männer sind von einer SARS-CoV-2-Infektion etwa gleich häufig betroffen. Männer erkranken jedoch häufig schwerer und versterben auch häufiger als Frauen. Hervorzuheben ist weiters – und dies ist ein Unterschied zur Annahme im Frühjahr – dass ein nicht unerheblicher Anteil der Infizierten eine Immunität aufbaut. Rund 85 Prozent jener, die deutliche Symptome entwickelt haben, weisen eine Immunität auf – und diese dürfte auch für eine längere Zeit anhalten.

Inwieweit und wie häufig sind Kinder Überträger des Corona-Virus?

Wir haben nur sehr wenige Fälle gesehen, bei denen etwa Schüler Lehrer angesteckt haben – und wenn dies der Fall war, dann fand dies beim Singen im Chor oder beim Sport in geschlossenen Räumen statt. Insgesamt sollten Kinder jedoch nicht im Fokus von Maßnahmen stehen, da sie bei der Übertragung des Erregers nur eine sehr eingeschränkte Rolle spielen.

Waren die Schließungen von Schulen und Kindergärten dann überhaupt sinnvoll?

Ich würde dies so formulieren: Seuchenepidemiologisch wirken sich Schul- und Kindergartenschließungen nur in einem geringen Ausmaß aus. Im Rahmen der Gesamtsituation waren sie jedoch vermutlich aus psychologischer Sicht notwendig.

Stichwort Medikamentation von Covid- 19-Patienten: Können Sie uns ein Beispiel aus Ihrer Praxis geben, was sich bewährt hat?

Im Wohn- und Pflegeheim Lienz haben wir N-Chlortaurin verwendet – und damit keine schlechten Erfahrungen gemacht. Im ambulanten Bereich ist dieses Medikament, dessen Verteilung Prof. Nagl ausInnsbruck koordiniert, bei uns in einem gewissen Umfang in den vergangenen eineinhalb Wochen zum Einsatz gekommen. Das Risiko, eine Lungenentzündung zu entwickeln, kann damit deutlich reduziert werden.

 

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Verschiedene Impfstoffe als Mittel zur Beendigung der Pandemie waren zuletzt in aller Munde. Ihre Einschätzung dazu?

Aktuell ist in Europa noch kein Impfstoff zum Schutz vor COVID-19 zugelassen, es befinden sich jedoch einige Impfstoff-Kandidaten, die auf unterschiedlichen Wirkprinzipien beruhen, in der Warteschleife, um von der EMA (Europäischen Arzneimittel-Agentur) geprüft zu werden. Im klassischen Ansatz enthält eine Impfung als Antigen inaktivierte Viren (Totimpfstoff) oder abgeschwächte Viren (attenuierte Impfstoffe), virale Proteine oder auch Impfviren mit „aufgepflanzten“ SARS-CoV-2-Hüllproteinen. Sie lösen eine Immunreaktion mit Bildung von Antikörpern und T-Zellen aus. Im Gegensatz dazu entfallen bei genbasierten Impfstoffen, wie mRNA-, DNA- und Vektorimpfstoffen diese Prozesse. Vielmehr basieren sie auf dem Konzept, den Körper die Impfantigene selbst herstellen zu lassen – und bauen damit auf einer neuen Technik auf. Die derzeitigen Daten der Hersteller sind ermutigend. Langzeit-Effekte können bei diesen Impfstoffen aber noch nicht bewertet werden – im Gegensatz zu den so genannten Totimpfstoffen, bei denen es zum Teil über Jahrzehnte lang gewonnene Erfahrungswerte gibt.

Wie hoch müsste die Durchimpfungsrate der Bevölkerung sein, um die Pandemie zu beenden?

Es könnte durchaus sein, dass eine Rate von 60 bis 70 Prozent genügt. Ist diese erreicht, könnte sogar der Fall eintreten, dass das Virus ganz verschwindet. Das wissen wir aber nicht mit Gewissheit.

Wie wird, wie könnte der Winter in Osttirol weitergehen? Wie groß ist die Gefahr einer dritten Welle und wann könnte eine Entspannung der Lage eintreten?

Ich halte eine dritte Welle im Jänner/Feber für durchaus realistisch. Die Gefahr, dass es zu einer ähnlichen Entwicklung wie Ende Oktober/Anfang November kommt, ist groß. Mit einem Abklingen der Welle und einer Entspannung rechne ich im Frühjahr 2021.

Was glauben Sie, haben wir als Gesellschaft, was hat Österreich aus dieser Pandemie gelernt?

Ich bin davon überzeugt, dass Medizin auch Katastrophenvorsorge ist – und eine Pandemie ist nichts anderes als eine Naturkatastrophe. Aus diesem Grund sollte man immer genügend Ressourcen vorhalten und Reserven für den Ernstfall anlegen. In Österreich gibt es jedoch keinen diagnostischen Plan zur Infektionskontrolle. Hier wurde massiv gespart. Auch wäre ein Stellenplan für Infektionsdiagnostik auf Landesebene samt Warndienst dringend nötig. Wenn ich allerdings sehe, wie wenig die Zeit im Sommer 2020 für die Vorbereitung auf den Herbst/Winter genützt wurde und wie mangelhaft beispielsweise praktische Ärzte und Labore bislang in die Pandemie-Strategie eingebunden wurden, dann ist die Antwort auf die Frage, was wir gelernt haben, leider müßig!

 

Interview: Elisabeth Hilgartner, Fotos: Martin Lugger, AdobeStock

02. Dezember 2020 um