Bischof Hermann Glettler: „Wir sollten einander mehr zuhören!“

Seine Einschätzung, inwieweit die Gesellschaft aufgrund der derzeitigen Krise zu einer Neuausrichtung bereits ist, sagte uns der Bischof u.a. im Interview zum Start in den Advent.

Angesichts der derzeit nicht nur in Österreich schwierigen Situation, angesichts von Unruhe und zunehmender Nervosität rät der Innsbrucker Diözesanbischof Hermann Glettler dazu, auf die eigene Sprache zu achten, zu versuchen, anderen wirklich zuzuhören, und gerade jetzt, in Zeiten der Krise, für andere da zu sein. Im Interview zum Start in den Advent nimmt der „oberste Hirte“ der Diözese auch Stellung dazu, warum sich derzeit so viele Menschen in Verschwörungstheorien flüchten, wie man trösten kann und ob er glaubt, dass unsere Gesellschaft zu einer Neuausrichtung bereit ist.

Herr Bischof, die Pandemie hat unser aller Leben verändert. Die Zuversicht ist erschüttert, die Unsicherheit, was die Zukunft bringen wird, gestiegen. Wie nehmen Sie persönlich die aktuelle Situation wahr?

Ganz offensichtlich gibt es eine Erschütterung, nichts ist selbstverständlich. Zum Glück besteht unser Gesundheits- und Sozialsystem gerade eine der intensivsten Belastungsproben – vieles hängt auch zukünftig vom Verständnis und vom solidarischen Zusammenhalt der Bevölkerung ab. Vielleicht liegt tatsächlich in der Krise auch eine Chance. Das „Immer weiter so“ hat ja auch etwas Bedrohliches. Wollen wir wirklich einen Lebensstil, der kein Maß und kein Genug mehr kennt?

Glauben Sie, dass die aktuelle Situation für junge Menschen bedrohlicher ist als für jene, die auf mehr Lebenserfahrung zurückgreifen können oder ist dies eine oberflächliche Verallgemeinerung?

Die Zukunft fühlt sich gerade für junge Leute momentan nicht gut an. Einige erleben erstmals massive Einschränkungen, die ihr Schul- und Freizeitverhalten betreffen. Ganz selbstverständliche Lebensperspektiven sind in Frage gestellt. Wir sollten deshalb Kindern und Jugendlichen viel Aufmerksamkeit schenken.

In Krisen werden einerseits schlechte menschliche Eigenschaften offenkundig, andererseits aber auch die Großartigkeit vieler Menschen. Was überwiegt Ihrer Einschätzung nach in der aktuellen Situation?

Trotz der Unruhe und vielen Belastungen überwiegt das Gute! Wir haben in der ersten Corona-Akutphase eine überwältigende Welle von Wertschätzung und Aufmerksamkeit erlebt. Daran sollten wir anschließen. Neid, Missgunst und Gier kommen aus einem unversöhnten Herzen. Es braucht immer wieder eine Entscheidung für die Großherzigkeit und gegen das Diktat von Frust und Bitterkeit.

Was bedrückt Sie, was macht Ihnen Hoffnung?

Ich mache mir Sorgen, ob wir als Gesellschaft nicht zu sehr auseinanderdriften. Es entstehen zu viele Eigenwelten und Kommunikationsblasen. Hoffnung geben mir Menschen, die nach großen Katastrophen wieder Ja zum Leben gesagt haben. Und ebenso stärkt mich die Gewissheit, dass nach jedem Versagen ein Neubeginn möglich ist.

Dieses „Anderen-Hoffnung-Geben“ ist ein Aspekt der Menschlichkeit, ein anderer, Trost zu spenden. In Ihrem, gemeinsam mit dem Psychiater Michael Lehofer herausgegebenen Buch „Trost – Wege aus der Verlorenheit“ widmen Sie sich dem Thema „Trost schenken“, das ohne Zweifel auch im christlichen Glauben eine große Rolle spielt. Was bedeutet Trost für Sie?

Trost ist eine innere Gewissheit, bejaht zu sein und einen Raum zu haben, wo ich meine Trostlosigkeit nicht verstecken muss. Trost ist keine fertige Rezeptur, kein Medikament, das alle Verluste und Wehwehchen zum Verschwinden bringt. Trost ist die Erfahrung, dass jemand mit mir unterwegs ist
– durch alle Täler von Tränen hindurch. Vertröstung ist im Gegensatz dazu immer ein falsches Versprechen.

Trostlosigkeit und der Weg, wieder heraus zu finden, bleiben im Laufe eines Lebens wohl niemandem erspart. Können Sie uns diesbezüglich von einer persönlichen Erfahrung erzählen, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Ich wurde nach 17 Jahren Pfarrersein in einem multikulturellen Hotspot in Graz gebeten, als Bischofsvikar diözesane Aufgaben zu übernehmen. Ich musste ein Umfeld verlassen, das mir zur Heimat geworden war. Außerdem hat mein Nachfolger vieles von dem, was mir wichtig war, nicht fortgeführt. Das war hart. Getröstet hat mich ein Freund. Er hat mir vermittelt, dass alles, was mit ehrlichem Herzen ausgesät wurde, nicht verloren geht – wie und wo auch immer die Saat aufgeht.

Als ein Grundproblem beschreibt das Buch die individuelle Verlorenheit in einem unüberschaubar großen System. Warum glauben Sie, reagieren so viele darauf mit dem Hang zu Verschwörungstheorien, zu Widerstand gegen den Staat, zu Aggression und nicht zuletzt auch mit einer Radikalisierung?

Verschwörungstheorien liefern simplifizierte Erklärungen mit dem Versprechen letztgültiger Aufklärung. Der Nährboden ist ein schwelendes Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen und das Gefühl der Ohnmacht angesichts einer undurchschaubar gewordenen Welt. Es herrscht der Verdacht, in die Irre geführt oder manipuliert zu werden. Die aufgestaute System-Wut entlädt sich oft sehr aggressiv.

Wie könnte, wie sollte die Antwort der Gesellschaft darauf sein? Welche Rolle spielt es, dass wir anderen zu wenig zuhören?

Angesichts von Unruhe und Nervosität ist ein wirkliches Zuhören ein Allheilmittel – ein echtes Hinhören. Und wir sollten auf unsere Sprache achten – je wertschätzender und gewaltärmer, desto besser. Ein permanentes Empören, das sich an alltäglichen, fast banalen Unannehmlichkeiten entzünden kann, vergiftet das gesellschaftliche Klima.

Hat dieses Zuhören auch Grenzen?

Das Zuhören öffnet einen inneren Resonanzraum, in dem jemand „ankommen“ kann. Damit ergeben sich oft überraschende Lösungen, der Sprechende kann seine eigene Kreativität und Krisenstrategie entfalten. Das Zuhören hat nur dann eine Grenze, wenn sich Respektlosigkeit und Intoleranz einschleichen oder Menschen fertig gemacht werden.

Wie funktioniert Trösten in aussichtlosen Lebenssituationen?

Es ist ein Weg. Trösten beginnt mit dem Aushalten der Trostlosigkeit. Das, was an Elend da ist, muss zuerst einmal ernst genommen werden. Die Kirche hat den Auftrag, mit dem Evangelium zu trösten.

Was sagen Sie jenen, die keinen Glauben haben?

Niemand wird zum Glauben gezwungen. Es ist eine Einladung. Die Frohbotschaft von Jesus ist ja auch keine Vertröstungsformel. Unser Glaube entlastet, weil er uns vom Diktat befreit, dass wir alles selbst tun und wieder gut machen müssen. Alles ist Gnade! Unser Glaube ist eine jahrhundertelang bewährte Aufsteh-Hilfe, eine Trotzdem-Kraft in allem.

Im Buch sprechen Sie davon, dass es letztlich nicht nur darum geht, selbst getröstet zu werden, sondern um die Fähigkeit und Bereitschaft, andere zu trösten. Ist gelebte Empathie also der Weg für den Einzelnen aus der Krise?

Ja! Trost wird mir selbst geschenkt, wenn ich mit meinen eigenen Unsicherheiten versuche, für jemanden da zu sein. Trösten tröstet. Und jede Erfahrung eigener Schwäche, eigenen Versagens und eigener Ohnmacht macht uns sensibler, offener und damit auch empathischer für die Not anderer.

Es ist ein geflügeltes Wort, dass jede Krise auch eine Chance ist. Glauben Sie, dass unsere Gesellschaft für eine Neuausrichtung bereit ist?

Mal sehen. Die Sehnsucht ist zumindest vorhanden. Auf keinen Fall können wir uns aktuell weder eine Verharmlosung der Gesundheitskrise noch eine chronische Verzagtheit leisten. Wir bereiten uns nun auf Weihnachten vor: Gott beginnt im Kleinen inmitten einer verunsicherten und oft heillos anmutenden Welt. Das tröstet!

Wie sollte das „Leben nach Corona“ aussehen? Was würden Sie sich wünschen?

Ich wünsche mir, dass wir die großen Post-Corona-Baustellen gemeinsam meistern – in einem gesellschaftlichen Miteinander, das ganz selbstverständlich von einer wachsamen und solidarischen Zivilgesellschaft getragen wird. Ich wünsche mir auch, dass viele Zeitgenossen wieder den Schatz unseres christlichen Glaubens entdecken!

Danke für das Gespräch!

 

Interview: E. & J. Hilgartner, Foto: Diözese Innsbruck/Walter Hölbling

03. Dezember 2020 um