9. Osttiroler Selbsthilfetag: Über Trauer und die Kraft zum Weitermachen

Beim 9. Osttiroler Selbsthilfetag sprechen Alexander und Angela Pointner über Trauerarbeit. Wir unterhielten uns im Vorfeld mit dem Erfolgstrainer und der Erziehungswissenschaftlerin.

Der 9. Osttiroler Selbsthilfetag unter dem Motto „Körper – Geist – Seele“ findet am Samstag, 17. September, in der Landwirtschaftlichen Lehranstalt Lienz statt. Um 9.30 Uhr referieren Alexander und Angela Pointner zum Themenbereich Depression, Suizid und Trauerarbeit. Raimund Mühlburger unterhielt sich mit dem Erfolgstrainer der österreichischen Skispringer und seiner Frau Angela, einer Erziehungswissenschaftlerin, die das Zentrum für Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung und Regenerationscoaching in Innsbruck leitet, über den Umgang mit Depressionen, Suizid und Wege der Trauerarbeit.

Seit mehreren Jahren muss sich Familie Pointner mit der Diagnose Depression auseinandersetzen. Alexander Pointner selbst und seine zwei ältesten Kinder waren betroffen. Tochter Nina lag nach einem versuchten Suizid 13 Monate lang im Wachkoma und verstarb im Dezember 2015. Ein Jahrzehnt lang begleitete Alexander Pointner die „Superadler“ in ungeahnte Höhen. Nach dem Suizid von Tochter Nina blieb zunächst nichts als Fassungslosigkeit.

 

Können Sie uns Ihren Weg nach dem Tod Ihrer Tochter Nina beschreiben? War die Trauerarbeit ein wichtiger Bewältigungsprozess?

Angela: Nach dem Tod unserer Tochter war es für mich wichtig, die Trauer überhaupt zulassen zu können. Über ein Jahr lang hatte ich für meine Tochter, die im Wachkoma lag, gekämpft und die Hoffnung nie aufgegeben. Mein Trauerprozess dauert noch immer an, er verändert sich auch immer wieder, aber ich kann ihn heute als wichtigen Bestandteil meines Lebens annehmen.

Alexander: Ich habe sehr viel geweint. Es fällt mir bis heute schwer, mich an Urlaube oder andere schöne Momente mit Nina zu erinnern, da die Traurigkeit dann noch immer überwiegt. Aber ich erlebe mit meiner Familie auch wieder viele glückliche Momente.

 

Was hat Ihnen nach dem Suizid bzw. dem Tod Ihrer Tochter vor allem Kraft gegeben?

Angela: Mir hat professionelle Hilfe am meisten geholfen. Da war jemand für mich da, der mir geholfen hat, alles zu verstehen, was da mit mir und mit meiner Familie passierte. Ich wurde durch meine Therapie unheimlich gestärkt. Und da sind bis heute Freundinnen und Freunde, die unsere Situation aushalten, mit uns lachen und weinen können, ohne uns mit „Ratschlägen“ zu erschlagen.

Alexander: Mir haben Menschen geholfen, die uns Beistand geleistet haben. Die nicht weggeschaut oder schnell vorbeigehastet sind, sondern sich die Zeit genommen haben, sich auf uns und unser schweres Schicksal einzulassen. Die auf die Frage: „Wie geht es dir?“ eine ehrliche Antwort vertrugen. Und natürlich hat uns auch die professionelle Hilfe Kraft gegeben.

 

Sie waren erfolgreicher Trainer der österreichischen Skispringer. Wie hat sich durch die Schicksalsschläge ihre Einstellung zu Erfolg, zu Wettbewerb und zu materiellen Dingen verändert?

Alexander: Im Spitzensport wird ja gerne dramatisiert, da ist ja oft schon eine kleine Verletzung oder eine schlechte Platzierung eine Tragödie. Ich kann so etwas nicht mehr nachvollziehen, in meinem Leben gibt es nun andere Prioritäten und ich würde auch sagen: mehr Tiefe.

 

Wie verändert sich der Wertekatalog und die Einstellung zum Leben im Allgemeinen durch derartige Schicksalsschläge?

Alexander: Die Endlichkeit des Lebens wird einem viel mehr bewusst. Ich wollte mit meiner Tochter Nina noch so viel erleben, gleichzeitig war ich als Cheftrainer aber nur wenig daheim. Ich bringe mich zuhause nun viel mehr ein, genieße die Zeit mit meiner Familie.

Angela: Für mich war es ganz wichtig, mich von alten Verhaltensmustern zu lösen, die mir nicht gut tun. Ich möchte mit meiner Trauer ein glückliches Leben führen, deshalb entscheide ich heute viel bewusster, was ich tue und mit wem.

 

Auch Sie selbst litten an Depressionen. Warum glauben Sie erleben gerade auch erfolgreiche Menschen, bei denen anscheinend alles wie am Schnürchen läuft, depressive Phasen?

Alexander: Niemand ist vor einer Depression gefeit. Jeder kann psychisch krank werden, genauso wie jeder an einer Grippe erkranken kann. Das hat nichts mit Erfolg oder Misserfolg im Leben zu tun. Natürlich gibt es Umstände, die eine Erkrankung begünstigen – das Wissen darüber ist in unserer Gesellschaft aber kaum verbreitet.

 

Was sind erste Anzeichen von Depressionen? Was sollte man Ihrer Meinung nach dagegen tun?

Angela: Erste Anzeichen können innere Unruhe, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und Leistungsabfall sein. Bei Jugendlichen stehen oft ständige Niedergeschlagenheit und auch Aggressionen im Vordergrund.

Alexander: Man sollte allgemein mehr Regeneration in sein Leben einbauen. Damit meine ich moderaten Ausdauersport in einem Pulsbereich von 100 bis 110. So kann das Stresshormon Cortisol effektiv abgebaut werden und man erholt sich wieder.

 

Ab wann sollte man einen Arzt oder Psychologen aufsuchen?

Angela: Wenn sich oben genannte Zustände über mehrere Wochen halten, sollte man Hilfe bei einem Spezialisten suchen. Das kann zunächst der Hausarzt sein, allerdings sollte man sich nicht mit Beruhigungstabletten abspeisen lassen. Der nächste Ansprechpartner kann Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut sein.

 

„Mut zur Klarheit” heißt ihr Buch, das Sie gemeinsam geschrieben haben. Warum ist Klarheit wichtig in Bezug auf Depression und Suizid?

Alexander: Weil es eben immer noch ein Tabuthema ist, auch wenn es immer mehr Aufklärungskampagnen gibt. Leider hat eine Psychotherapie oder der Besuch eines Psychiaters in vielen Teilen der Gesellschaft einen sehr negativen Ruf. „Ich bin ja nicht verrückt“, heißt es da schnell.

Angela: Suizid ist eine der häufigsten Todesursachen in unserer Gesellschaft. Und doch steht jede betroffene Familie für sich alleine da, denn über Suizid und seine Folgen wird nicht gesprochen. Oft wird man noch dazu mit dem Vorwurf konfrontiert, dass man doch etwas merken und den Suizid hätte verhindern müssen.

 

Warum sind Depression und Suizid ihrer Meinung nach auch heute noch vielfach Tabu-Themen in unserer Gesellschaft?

Alexander: In unserer Leistungsgesellschaft werden depressive Menschen als schwach angesehen. Gleichzeitig werden viele von Existenzängsten geplagt. Da will sich niemand die Blöße geben und sagen, dass er psychisch krank ist.

Angela: Zum Thema Suizid war lange die Meinung vorherrschend, dass man nicht darüber sprechen oder berichten darf, um keine Nachfolgetaten zu begünstigen. Heute weiß man, dass es darauf ankommt, wie man darüber spricht. Der Papageno-Effekt, also das Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten in Krisensituationen, kann Leben retten.

 

Sie wollen mit den Themen offen umgehen, schreiben Bücher und halten Vorträge. Wie schwer fällt Ihnen das oder hilft Ihnen das sogar bei der Aufarbeitung?

Alexander: Die Vorträge fallen mir überhaupt nicht schwer, im Gegenteil. Ich lerne immer sehr interessierte Menschen und spannende Unternehmen kennen.

Angela: Das Schreiben und Sprechen über Depression und Suizid fällt mir wesentlich leichter, als das Schweigen darüber. Da habe ich manchmal das Gefühl, sprichwörtlich zu platzen …

 

Was kann ein offener Umgang mit Depression und Suizid bewirken? Erkennen Sie schon Verbesserungen in unserer Gesellschaft?

Alexander: Ja, ich erkenne Verbesserungen. Es gibt heute viele Initiativen, die sich für einen offeneren Umgang einsetzen. Das Sprechen über Depression sollte genauso selbstverständlich sein wie der Umgang mit anderen alltäglichen Erkrankungen.

Angela: Durch unseren offenen Umgang mit den Themen kommen oft auch Menschen auf uns zu, die sich vorher nicht getraut haben, über ihre persönlichen psychischen Probleme zu sprechen. Das Miteinandersprechen erleichtert auch im kleinen Rahmen vieles.

Danke für das Gespräch!

 

„AUFWIND“ – das neueste Buch von Alexander und Angela Pointner

Der ehemalige Erfolgstrainer Alexander Pointner und sein Frau Angela haben in verschiedenen Bereichen des Lebens gelernt, einwandfrei zu funktionieren. Beständige Optimierung und Leistungsfähigkeit waren für sie – wie für viele Menschen – das Maß aller Dinge. Doch der Tod ihrer Tochter stellte das Ehepaar auf eine harte Probe: Es musste sich Gefühlen stellen, die in unserer Gesellschaft meist verdrängt werden: Angst, Scham, Wut, Erschöpfung und Trauer. Diese emotionale Vielfalt ins eigene Leben zu integrieren ist keine leichte Aufgabe. Für Angela und Alexander Pointner war aber genau das der Weg zurück zu Zufriedenheit, Kraft und Lebensmut.

Alexander Pointner,  geb. 1971, 2004 bis 2014 Cheftrainer des österr. Skisprung-Nationalteams. Mit den „Superadlern“ erzielte er u. a. 32 Medaillen (17 Gold), 118 Weltcupsiege und 6 Siege bei der Vierschanzentournee in Serie. Der erfolgreichste Skisprungtrainer der Geschichte ist gern gebuchter Vortragender. Mit dem Buch „Mut zum Absprung“ (2014) landete er sofort einen Bestseller. 2017 folgte der zweite Bucherfolg „Mut zur Klarheit“.

Mag. Angela Pointner, geb. 1971. Nach der Matura fünf Jahre freie Sportjournalistin, Studium der Erziehungswissenschaften; leitet seit 2009 ein Zentrum für Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung und Regenerationscoaching in Innsbruck. Sie schrieb mit ihrem Mann Alexander die beiden Bestseller „Mut zum Absprung“ und „Mut zur Klarheit“. 2015 erschien ihr erster Roman „Phie und die Hadeswurzel“, 2017 folgte „Phie und das Gedächtnis der Steine“ und 2019 „Phie und die Sieben Sonnen“. Im November 2021 veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Mann das Buch „AUFWIND“.

 

Programm 9. Osttiroler Selbsthilfetag zum Download

 

Interview: Raimund Mühlburger, Foto: BIZCOMBURNZ

14. September 2022 um