Von Erstbesteigungen, wahren Helden und der Faszination „Dolomiten”

Mit der Erstbesteigung der Dreischusterspitze am 18. Juli 1869 schlug im Südtiroler Wander- und Bergsteigerdorf Sexten die Geburtsstunde des Alpinismus, und der Tourismus hielt Einzug.

Wenn man in Sexten Antworten auf Fragen geschichtlicher Natur sucht, wendet man sich am besten an Rudolf Holzer. Der heute 82-Jährige unterrichtete von 1957 bis 2001 an der örtlichen Grundschule und wird nicht nur von seinen ehemaligen Schülern „Lehrer Rudl” genannt. Sein Wissen über die Historie Sextens, die Entwicklung des Alpinismus in den Dolomiten, aber auch über den Ersten Weltkrieg, dessen Ursachen und Hintergründe, ist schier unerschöpflich. Davon kann man sich nicht nur in der direkten Begegnung, sondern auch beim Durchforsten der Publikationen überzeugen, die der Südtiroler über die Region, über Häuser und Familien seiner Heimatgemeinde, über Vereine, Bergführer und die Sextener Kirche verfasst hat.

 

Rudolf Holzer: „Die ersten Gäste im Dorf waren weitgereiste Alpinisten auf der Suche nach jungfräulichen Bergspitzen. Die ortskundigen Führer – vor allem Gamsjäger – kannten sich im Gebirge bestens aus und brachten auch die notwendige Fitness mit. Auf Gipfelpioniere folgten Bergabenteurer und Kletterkünstler, die immer schwierigere und extremere Routen legten und diese raue Welt für eine breitere Masse zugänglich machten.“ Foto: TV Sexten/Harald Wisthaler

 

„Sexten wurde durch die Erstbesteigungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals international bekannt“, hält Rudolf Holzer zu Beginn unseres Gespräches fest. „Waren es bis dahin vor allem die Westalpen, die Alpinisten in ihren Bann zogen, so wurde die Kletter-Weltelite nun auch auf die Dolomiten aufmerksam.“ Die beiden Erstbesteigungen gelangen, wie er ausführt, innerhalb eines Jahres: „Am 18. Juli 1869 erreichte der Wiener Alpinist Paul Grohmann, Mitbegründer des Österreichischen Alpenvereins, gemeinsam mit dem Führer Franz Innerkofler den Gipfel des höchsten Berges der Sextner Dolomiten, der Dreischusterspitze auf 3.145 Metern Seehöhe. Bei der Erstbesteigung mit dabei war neben Jäger Peter Salcher aus Maria Luggau auch Josef Innerkofler jun. Die Teilnahme des Steinmetz-Sohnes aus Sexten ist heute nur den wenigsten bekannt. Sie wird aber in Paul Grohmanns Aufzeichnungen eindeutig belegt”, erklärt Holzer.

 

Paul Grohmann sah die Dolomiten vom Kitzsteinhorn im Pinzgau aus und wollte sie unbedingt erobern. Fotos: Theodor Mayerhofer via Wikimedia Commons, TV Sexten

 

Beflügelt von diesem Erfolg gelang Grohmann und seinen Begleitern nur wenige Wochen später, am 21. August 1869, auch die Erstbesteigung der Großen Zinne (2.999 m). „Paul Grohmann war von den Zinnen und Graten der Sextner Dolomiten fasziniert. Nachdem es zu dieser Zeit noch kaum Aufzeichnungen über diese Berggruppe gab, wollte er sie unbedingt erobern. Die Große Zinne erschien ihm, so die Überlieferung, weniger wegen ihrer Höhe, als vielmehr aufgrund der Kühnheit ihres Baues interessant.“ Auf die Zeit der legendären Erstbesteigungen von 1869 bis 1890 folgten Jahre, in denen ambitionierte Bergsteiger und Kletterer neue und immer schwierigere Aufstiegsrouten suchten. Dann kam eine Phase, die man auch als „alpine Sturm-und-Drang-Zeit“ bezeichnen könnte. Den Felsriesen wurden nun auch die senkrechtesten Steilwände abgetrotzt – zum Teil ohne Hilfsmittel wie Seil und Mauerhaken.

 

Es ist ohne Frage die Magie der einzigartigen Bergkulisse, die Sexten im Laufe der vergangenen 150 Jahre zu dem werden ließ, was es heute ist: ein beliebtes Ziel für Aktivurlauber und Panoramagenießer. Foto: TV Sexten/Harald Wisthaler

 

„Sepp Innerkofler wurde durch die Bezwingung der Kleinen Zinne Nordwand auf einen Schlag zur Legende und zum wohl gefragtesten Bergführer der Region“, verweist der 82-jährige Kenner der Sextener Alpingeschichte auf bekannte Persönlichkeiten. „Zu erwähnen sind auch die Zsigmondy-Brüder Otto und Emil und natürlich der österreichische Alpinist Paul Preuss. Der ,Preuss-Riss‘, eine der schönsten Klettertouren zum Gipfel der Kleinen Zinne, erinnert noch heute an diese spannende Erschließungsphase.“ Mit dem Alpinismus hielt auch der Tourismus in Sexten Einzug. Einheimische Führer waren gefragt wie nie zuvor, und die wenigen damals existierenden Gasthäuser waren rasch ausgebucht. Bald waren es nicht nur mehr aktive Kletterer, die nach Sexten kamen, sondern auch Menschen, die schlicht von der Schönheit der Berge fasziniert waren.

 

Die Sextner Sonnenuhr. Foto: TV Sexten/Harald Wisthaler

 

Nach und nach entwickelte sich das Bergdorf zu einer vielbesuchten Tourismusdestination. Einen Meilenstein in dieser Phase bildete die Eröffnung der Pustertalbahn. Rudolf Holzer: „In der Folgezeit kam auch die gehobene Gesellschaft nach Sexten. Sommerfrischler nannte man diese Gäste damals. Zugverbindungen gab es von München, Berlin, Brünn, Mailand, Prag, Rom oder auch Paris bis nach Innichen. Die Zugfahrt von Wien ins Hochpustertal z.B. dauerte 13 Stunden.“ Ab den 1930er-Jahren erreichte der Alpinismus im Südtiroler Bergdorf einen weiteren Höhepunkt. Die Brüder Toni und Franz Schranzhofer wurden mit ihren spektakulären Aufstiegen über die Zwölfer-Nordkante und die griffarme Nordwand der westlichen Spitze des Zwölfers bekannt. Kurz darauf, 1933, wurde auch die Große-Zinne-Nordwand vom Triestiner Bergführer Emilio Comici durchstiegen.

 

Gipfelbücher sind die schriftlichen Beweise für Heldentaten in den Bergen. Zum Jubiläum „150 Jahre Sexten Alpin” werden die Gipfelbücher ins Tal geholt und als begehbare Kunstinstallation inszeniert. Foto: TV Sexten

 

„Die schwierigen Wände der beiden größeren Zinnen galten lange als unbezwingbar, bis schließlich eine neue Bergsteigergeneration den Fels-Überhängen mit Bohrhaken zu Leibe rückte. Die Große Zinne-Nordwand wurde in der Falllinie durchklettert und die beiden Routen ,Direttissima‘ und ,Superdirettissima‘ gelegt. 1968 schließlich fiel das letzte Bollwerk – der 40 Meter waagrecht vorstehende Überhang der Westlichen Zinne.“ Seitdem waren und sind die Sextner Dolomiten  Anziehungspunkt für passionierte Kletterer aus der ganzen Welt. Jährlich erklimmen viele Bergfreunde die Gipfel der Dolomiten. Auch Wanderrouten rund um das Wahrzeichen Südtirols – die Drei Zinnen – ziehen Menschen aus aller Welt in ihren Bann. Unten im Tal wurde, wie Rudolf Holzer abschließend anmerkt, in Sachen Gästebewirtung nachgezogen. „In den vergangenen Jahrzehnten wurde emsig gebaut und erschlossen. Schließlich will man den Gästen auch modernen Komfort bieten!“

 

Highlights „150 Jahre Sexten Alpin”

Das Wander- und Bergsteigerdorf Sexten lädt im Jahr 2019 zu einer aufregenden Reise durch seine Alpingeschichte ein. Überall im Dorf gibt es Spannendes zu entdecken: Zeitzeugnisse großer Eroberungen, Bergsteigergeschichten, Routen zum Anfassen und
vieles mehr …

Das begehbare Gipfelbuch

Gipfelbücher sind die schriftlichen Beweise für Heldentaten in den Bergen. Jede spektakuläre Erstbegehung erzählt von Mut, von großem Ehrgeiz, mentaler Stärke und technischem Können – und von einem gewissen Maß an Verrücktheit. Genau diese Eroberungen wurden bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in den Büchern hoch oben auf den Bergen dokumentiert. Sexten holt die Gipfelbücher in diesem Jahr ins Tal – inszeniert als begehbare
Kunstinstallation. Wie das begehbare Gipfelbuch genau aussehen wird, bleibt bis zur Eröffnung am 26. Juni 2019 ein streng gehütetes Geheimnis.

Bergzeit – die Sextner Sonnenuhr

Die Sextner Sonnenuhr wird in den Monaten Juni und Juli 2019 ganz besonders in Szene gesetzt. Das Naturschauspiel der steinernen Sonnenuhr ist so alt wie die Berge selbst und prägt das Dorf seit Jahrhunderten. Über dem Neuner, Zehner, Elfer, Zwölfer und Einser steht jahrein, jahraus die Sonne und zeigt an, wie spät es ist. Im Jubiläumsjahr wird der Sextner Sonnenuhr eine ganz besondere Aufmerksamkeit zuteil. Dazu wird auf den fünf Berggipfeln das Sonnenlicht eingefangen und zu jeder vollen Stunde reflektiert – fast so, als würden die Berge selbst aufleuchten. Die riesige Natur-Uhr wird quasi zum Symbol für die innige Verbundenheit der Dorfbewohner zu ihren Bergen. Am Haus Sexten wurde zudem eine Sonnenuhr aus Dolomit-Gestein errichtet, die seit 9. Juni 2019 besichtigt werden kann.

 

 

Text: Raimund Mühlburger, Fotos: Tourismusverein Sexten, Harald Wisthaler (www.wisthaler.com), Norbert Eisele-Hein, Theodor Mayerhofer via Wikimedia Commons

21. Juni 2019 um