1250 Jahre Anras: Osttiroler Trachten einst und heute

Die Anraser Bäuerinnen organisierten zum Jubiläum eine Trachtenschau. Wir besuchten sie und erfuhren viel Interessantes über die Trachten der einzelnen Talschaften.

Im Anraser Kultursaal wurden von 8. bis 14. April 2019 sowohl alte, als auch neue Trachten und Gewänder gezeigt. Zwei Sammlerinnen aus dem Pustertal – Barbara Aßmayr und Maria Kraler – sowie das Atelier Marianna stellten die Unikate der Ausstellung zur Verfügung.

 

Beispiele der bäuerlichen Kleidung aus dem Ende des 19. Jahrhunderts im Osttiroler Pustertal: Die Frauen trugen lange, schwere Lodenkittel mit Besenborten. Die Ärmel der Blusen, die in der warmen Jahreszeit aus dem Material Leinen gefertigt waren, sind gefältelt und mit einer Zierstickerei versehen. Die Männer (im Bild ein Exponat aus dem Villgratental) traten mit einem gestreiften Lodengewand mit u.a. tailliertem Rock und braunem Leibl auf.

 

Aus der Geschichte der Tiroler Tracht

Bis ins 16. Jahrhundert herauf lassen sich in Tirol kaum Unterschiede in der Bekleidung der bäuerlichen Bevölkerung feststellen. Es herrschten einfache, funktionale Formen vor. Die Stoff- und Herstellungsarten der Kleidung wurden vom vorhandenen Materialangebot geprägt, die Farbgebung der Alltagskleidung bewegte sich zwischen Weiß, Braun, Grau und Schwarz. Typisch war ein enger Zusammenhang des Kleidungsverhaltens mit der Religion, mit Brauchtum und Symbolik. Die Tracht gab Auskunft über die soziale Stellung, den Familienstand und über persönliche Umstände wie Trauerfall oder Hochzeit. Im Laufe der Jahrhunderte war die Tracht einem Veränderungsprozess unterworfen. Modeelemente des Adels wurden übernommen, die Erscheinungsformen änderten sich wie das Leben der TrägerInnen.

 

Iseltaler Tracht (links) und Trachten der Talschaft Defereggen (Mitte und rechts)

 

Die üppigen Frauengürtel, wie sie vor allem in Osttirol heute noch zu bewundern sind, haben z.B. ihr Vorbild in den adeligen Brautgürteln der Renaissance. Die Kurzhose der Männer geht wiederum auf den Einfluss des spanischen Hofes zurück. Die Spitze nach Brüsseler Vorbild stammt aus dem Barock. Die reichste Entfaltung der Tracht in Tirol fand im 18. Jahrhundert statt. Die gute wirtschaftliche Lage und eine längere Phase ohne Kriege ließen verstärkt Lebenslust aufkommen. Zudem wurden unter der Regentschaft von Maria Theresia Kleiderordnungen aufgehoben. Die Bandbreite der verwendeten Materialien wurde größer. Bunte, kostbarere Stoffe fanden Aufnahme in die ländliche Bekleidung und beeinflussten die Entwicklung der Festtrachten. Loden und Wolle blieben jedoch bis ins 19. Jahrhundert die bevorzugte Wahl der bäuerlichen Bevölkerung.

 

Pustertaler Werktagstracht (Mitte) und die „Osttiroler Sonntagstracht” (rechts)

 

Der Strukturwandel infolge der Industrialisierung löste dann tiefgreifendere Veränderungen aus. Teilweise kam es auch, z.B. bei den Händlern aus dem Defereggental im Zuge ihrer Wanderbewegungen, zu einem Ablegen der traditionellen Kleidung. Bald wandten sich auch Frauen zusehends modischen Kleidungen zu und trugen die bäuerliche Tracht mit ihren zum Teil üppigen Elementen aus dem Barock oft nur mehr an hohen Festtagen oder zu besonderen Anlässen. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Bedeutung der Tracht, ausgelöst durch das verstärkte Interesse des städtischen Bürgertums, neu belebt. Trachtenvereine nahmen sich der Tracht an und kleideten sich bewusst einheitlich.

 

Tracht aus dem Villgratental (links) und Festtagstrachten aus dem Pustertal (Mitte und rechts)

 

Einen wahren Trachtenboom leitete dann 1909 das 100-Jahr-Jubiläum der Gefechte von 1809 ein. Als bei der „Jahrhundertfeier“ Schützenkompanien und Musikgruppen in „Volkstracht“ aufmarschierten, folgten diesem Beispiel in den darauffolgenden Jahren viele weitere Vereine. Bis nach dem I. Weltkrieg wurde die Tracht insbesondere in diesen Gruppen und Organisationen getragen. Aus dem Tiroler Alltagsleben war die Tracht weitgehend verschwunden. Wieder waren es in der Folgezeit bürgerliche Kreise, die verstärkt das allgemeine Tragen von Trachten an Werktagen und Sonn- und Feiertagen verlangten.

 

Bäuerisches Gewand des Lienzer Talbodens (links), aus Sillian (Mitte) und aus Kals (rechts)

 

Eine erste wissenschaftliche Beschäftigung mit der Tracht setzte in den 1930er-Jahren ein. Im Dritten Reich versuchten die Nationalsozialisten die Tracht für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das weitere 20. Jahrhundert brachte für die Tracht dann eine wellenförmige Entwicklungslinie. Heute ist sie vorwiegend Ausdruck einer Gruppen-und Regionszugehörigkeit und damit ein identitäts- und gemeinschaftsstiftendes Element.

 

Trachten aus Matrei i.O.

 

Regionale Besonderheiten der Osttiroler Tracht

Im Kultursaal in Anras waren bis 14. April 2019 neue und alte Trachten sowie bäurisches Gewand aus allen Teilen des heutigen Bezirkes Lienz wie dem Lienzer Talboden, dem Puster- und Villgratental, dem Iseltal, dem Defereggental sowie aus Kals zu sehen. Aus den über 25 Exponaten stach als eine Kostbarkeit etwa das „Pustertalter Wintergewand“ heraus, welches, original erhalten, auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Einen besonderen Blickfang stellten die Filzschuhe und die sogenannte „Fuzzelhaube“ dar und als interessantes Detail ließ sich feststellen, dass Lodenkittel aufgrund ihres Gewichtes früher mit Hosenträgern getragen wurden.Entworfen in den 30er-Jahren erinnerte die so genannte „Osttiroler Sonntagstracht“ an die Intention der Nationalsozialisten, eine Vereinheitlichung der Trachten zu erzielen und das Individuelle zurückzudrängen.

 

Die Halskrause der Lienzer Festtagstracht ist sehr material- und arbeitsaufwendig. Elf Meter dicht gewebtes Leinen werden für die Stehfalten benötigt.

 

Besonderheiten

Die Kalser Tracht beispielsweise wurde schon im 18. Jahrhundert in der auch heute noch üblichen Aufmachung getragen. Eine Eigenheit ist die so genannte Lucktscheppe: Abgeleitet von den Dialektausdrücken „zueluckn“ für „zudecken“, sowie „Tscheppe“ für „Jacke“, handelt es sich bei diesem Kleidungsstück um eine durch besonders aufwendige Verarbeitung gekennzeichnete, kurze, eng geschnittene Miederjacke mit rückwärtigem Schösschen. Die Deferegger Festtagstracht zeichnet sich durch eine außergewöhnliche, zum Teil exotisch anmutende Vielfalt an Materialien aus. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte der Deferegger als weitgereiste Wanderhändler. Eine weitere Eigentümlichkeit dieses Gewandes liegt im Mieder, das nicht verschnürt, sondern verhaftelt (mit Hafteln fixiert) wird.

 

 

Der Frauengürtel der Matreier Tracht hat der Überlieferung nach einen besonderen Stellenwert: die Anzahl der verschiedenfarbigen Bänder an den handgefertigten silbernen Schnallen soll, so eine Interpretation, auf die Anzahl der Verehrer hinweisen. Dass Religion und Kirche immer schon einen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der Trachten hatten, lässt sich beispielsweise an den klaren Vorgaben für die Länge der Kittelschürzen ersehen. In gewissen Regionen durften auf den Schürzen z.B. ausschließlich Rosen abgebildet sein. Interessant sind auch andere Bestandteile der Osttiroler Tracht, wie der so genannte schwarze „Trauerflor“. Dieser war kein Zeichen der Trauer, sondern entstand aus der Adels- und Bürgerkleidung des 17. Jahrhunderts. Er diente außerdem als Schutz des Kragens vor Schmutz und Abnützung, oder bei den Männern ganz einfach als Krawattenersatz.

 

 

Symbol- und ausdrucksstark ist die unterschiedliche Form von Hauben und Hüten. Flache Kopfbedeckungen wurden z.B. von Knechten und Mägden getragen. Auch mit der Farbgebung der Blumen auf den Hüten waren bestimmte Inhalte und Bedeutungen verbunden: Rot sollte so z.B. Geister abwehren, während Grün als Zeichen der Anteilnahme bei Beerdigungen galt.

 

 

Text: Mariella Raffler, Fotos: Martin Lugger

17. April 2019 um