Philosophin Marie-Luisa FricK: „Mutig denken, selbstreflektiert handeln“

Die Realität exponentiell steigender Infektionszahlen und die drohende Überforderung des Gesundheitssystems zeigen, dass von einer „post-pandemischen Ära“ noch keine Rede sein kann.

Dies sieht auch Prof. Dr. Marie-Luisa Frick so und meint, dass „vielmehr höchstens der Ausbruch der Pandemie und die ersten eineinhalb Jahre ihrer Bewältigung hinter uns liegen.” Die gebürtige Osttirolerin lehrt und forscht als assoziierte Professorin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck und hat sich als Autorin diverser Publikationen im gesamten deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht. Wir haben Marie-Luisa Frick gefragt, welche nachhaltigen gesellschaftlichen Folgen die Corona-Krise nach sich ziehen könnte, warum das Systemmisstrauen derzeit so groß ist und ob bzw. wie denn Philosophie als Wissenschaft den Menschen in diesen schwierigen Zeiten Hilfestellung leisten kann.

Frau Professor Frick, in ihrem Essay „Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess“ setzen Sie sich mit der „Aufklärung“ auseinander. Was ist für Sie der Kern dieser Epoche, die am Beginn zur modernen Neuzeit steht?
Ich versuche durch die Geschichte und spannungsgeladene Normativität aufklärerischen Denkens zu führen und herauszuarbeiten, dass „Aufklärung“ kein Erbe ist, von dem wir immer schon wüssten, worum es sich handelt bzw. aus dem wir unsere Lehren gezogen haben. Vielmehr sehe ich die Aufforderung „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ sowie das nicht nachlassende Bemühen, die Welt um uns besser zu verstehen und nach Möglichkeit auch besser zu machen, als roten Faden, an den wir heute noch anknüpfen können. Und: Mutiges, eigenständiges Denken müssen wir uns immer wieder neu erarbeiten und es immer wieder neu entdecken!

Gerade Corona-Leugner und Querdenker heften sich auf ihre Fahnen, mutig denkende Menschen zu sein und die Wahrheit gegen einen autoritären Mainstream verteidigen zu müssen. Wo endet da die Aufklärung?
Viele, die unter dem Deckmantel des Selbstdenkens daherkommen, machen sich nicht die geringste Mühe, sich in ein Thema einzuarbeiten, sondern konsumieren, kritiklos „second hand“, Halb- und/oder Unwahrheiten. Doch das ist das Gegenteil von aufgeklärtem Denken! Selbst-Denken bedeutet vor allem eines: sich selbst, eigene Standpunkte und die eigene Urteilsfähigkeit immer wieder in Frage zu stellen. Dazu gehört, den Weg des eigenen Wissenserwerbs kritisch zu hinterfragen und die Möglichkeit einzubeziehen, falsch liegen zu können. Nur wenn diese Einsicht als Korrektiv gegeben ist, besteht ein berechtigter Anspruch auf unabhängiges, mutiges Denken. Ein Selbstdenker ist nicht derjenige, der sprichwörtlich in seinem eigenen Baum der Erkenntnis sitzt, sondern derjenige, der an diesem Baum auch hin und wieder kräftig rüttelt!

Das heißt, kritisches Selbstdenken ist ein offener Prozess, eine Bewegung, die nicht aufhört. Man muss sich dafür Zeit nehmen – und es bedeutet Arbeit. Sind wir dafür nicht oft schon viel zu bequem?
Eine gewisse Bequemlichkeit und mangelhafte Allgemeinbildung spielen in unserer Gesellschaft sicherlich eine Rolle und dies nicht erst seit Corona! Wir sehen eben auch, dass viele nie gelernt haben, zu unterscheiden, was wissenschaftlich generiertes Wissen ist und was nicht. Das ist auch ein bildungspolitisches Problem – und in Zeiten wie diesen natürlich fatal. Jedes Denken hat als Grundlage auch „trockenes“ Wissen und das sollte man sich lebenslang erarbeiten. Viele Angebote an Pseudowissen und -informationen, die derzeit herumschwirren, werden nicht selten gezielt verbreitet, um Menschen zu verführen. Eine Information wird aber erst dann zu Wissen, wenn man sie einschätzen, gewichten und sortieren kann.

Täuscht der Eindruck, dass viele, nach Jahrzehnten einer gefühlt gleichmäßigen Entwicklung, von der aktuellen Krise überfordert sind?
Nein, dem ist ohne Zweifel so. Die Klagen von Menschen, die sagen: „Gestern war es so, heute heißt es jenes und morgen ist alles wieder ganz anders“ werden lauter. Sie bringen einen Verlust an Sicherheit zum Ausdruck, der sich, wie ich meine, derzeit durch breite Bevölkerungsschichten zieht. Das Vertrauen in einzelne Institutionen, in die Politik und die viel beschworenen Experten ist stark gesunken. Viele fragen sich, worauf wir hinsteuern, suchen nach Stabilität und nach einem vermeintlich sicheren Ufer.

Ist dieses „Systemmisstrauen“ eine Hypothek des Pandemiegeschehens und -managements, mit der wir werden lernen müssen, umzugehen?
Nach eineinhalb Jahren Pandemie hat sich herauskristallisiert, dass es keine Erscheinung ist, die nur mehr bloß an politischen Rändern Relevanz hat. Breite Schichten der Bevölkerung in unseren westlichen Gesellschaften sind nicht nur „müde“, sondern schlichtweg entmutigt. Ein Teil dieser Entmutigung ist wohl unvermeidbar angesichts eines Virus, das immer wieder für böse Überraschungen gut ist. Einen Teil davon müssen sich aber auch jene zuschreiben lassen, die den Menschen falsche Hoffnungen gemacht haben. Ich denke, es ist nicht auszuschließen, dass das schleichend voranschreitende Systemmisstrauen auch dann fortbesteht, wenn Ausbrüche gesellschaftlichen Frusts, wie wir sie derzeit immer wieder erleben, längst abgekühlt sind.

Warum ist es so wichtig, die Kommunikation auch mit jenen aufrechtzuerhalten, die sich in dem, was die Regierung vorgibt, nicht mehr wiederfinden?
Schuldzuweisungen und eine mangelnde Bereitschaft, sich mit derartigen Positionen auseinanderzusetzen, können nicht die Lösung sein! Natürlich gibt es manches, das so haarsträubend unsinnig ist, dass es unerträglich scheint, sich damit noch abzugeben. Aber jenseits der Extreme bewegen sich viele Menschen in einem „Graubereich“, und verdienen es, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt. Tut man dies nicht, kann es in unserer Gesellschaft zu einer noch größeren Polarisierung kommen – und die Mitte verschwindet.

Einerseits rebellieren viele und verkünden lautstark ihren Unmut, und andererseits ziehen sich viele ins Private zurück, in ihre eigene Blase sozusagen. Kann auch daraus eine Gefahr für unsere Demokratie entstehen?
Um als politisches Volk entscheiden und handeln zu können, müssen wir am gesellschaftlichen wie politischen Leben teilhaben, miteinander sprechen und diskutieren. Wenn sich die Haltung durchsetzt, die Gemeinschaft interessiert mich nicht mehr, „sollen die doch machen, was sie meinen“, dann lässt sich kaum noch gemeinsam etwas erreichen.

Nicht nur die Bevölkerung, auch die Politik ist von dem unglaublichen Zeitdruck, den dieses Virus vorgegeben hat und es immer noch tut, überrascht worden. Was könnte bei möglichen künftigen Krisen besser gemacht werden?
Das größte Manko im Pandemiemanagement, das ich orte, bestand und besteht in der fehlenden Bereitschaft, mit der Bevölkerung „ohne Visier“ offen zu kommunizieren – und dies auch in Hinsicht auf Irrtümer und Fehler, die den Entscheidungsträgern unterlaufen sind. Wenn man die Wege hin zu Maßnahmen und die Gründe für Entscheidungen von Beginn an transparent macht, kann man die Bevölkerung auch auf Dauer viel stärker mitnehmen als dies gelungen ist.

Wie kann die Philosophie den Menschen in dieser Krise helfen?
In Zeiten, in denen vieles fraglich ist, ist die Philosophie die Disziplin der Stunde. Sie hat als wissenschaftliches Fach den großen Vorteil, dass sie sich nicht nur alleine mit sich selbst beschäftigt, sondern im Austausch mit anderen Wissenschaften steht. Natürlich hat auch sie kein Allheilmittel zur Hand, aber sie kann helfen, die richtigen Fragen zu stellen und beim Ausloten des Ungewissen Klarheit und Orientierung bieten. Es geht darum, hochkomplexe Themen und Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und herauszuarbeiten, was den Unterschied macht. Die Philosophie hat die Kraft, die Menschen dazu zu befähigen, selbstreflektiert, klug und in Ruhe Entscheidungen zu treffen und danach auch zu handeln!

Danke für das Gespräch!

 

Interview: E. & J. Hilgartner, Foto: © Andreas Friedle

16. November 2021 um