Marcel Amoser: Von den „1968ern“ und sozialen Bewegungen in Tirol

Der gebürtige Osttiroler Wissenschaftler Marcel Amoser spricht Anfang Dezember bei der 18. Universität im Dorf in Außervillgraten zum Thema „Die 1968er und Tirol“.

Marcel Amoser (Jahrgang 1988) ist in Matrei in Osttirol aufgewachsen. Nach der Matura am BG/BRG Lienz studierte er an der Universität Innsbruck Geschichte (Mag. phil.), Soziologie (BA) sowie „Gender, Kultur und sozialer Wandel“ (MA). Derzeit arbeitet er am Institut für Zeitgeschichte an seiner Dissertation zum Thema „Eine andere Stadtgeschichte. Soziale Bewegungen in Innsbruck 1968-1989“ und ist darüber hinaus Mitglied des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ am Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“. Seit vergangenem April ist der 30-Jährige auch als Archivar bei der Firma Swarovski in Wattens tätig.

Im Rahmen seiner Doktorarbeit beschäftigt sich der junge Wissenschaftler mit sozialen Bewegungen in Tirol. Dazu zählt die Ideologie der „1968er-Bewegung“ ebenso wie die Wertvorstellungen verschiedenster Gruppierungen, die sich etwa für die Gleichstellung von Mann und Frau, die rechtliche und soziale Gleichstellung von MigrantInnen, gegen den Krieg sowie für die Umwelt und vielfältige kulturelle Lebensformen eingesetzt haben. Die „1968er-Bewegung“, über die Amoser im kommenden Dezember in Außervillgraten referieren wird, sieht er als einen von vielen Aspekten, die Tirol in den vergangenen 50 Jahren „bewegt“ haben. Uns hat der Historiker und Soziologe im Osttirol heute-Interview viel Interessantes zu seiner Forschungsarbeit erzählt.

 

 

Marcel, woher rührt dein Interesse für soziale Bewegungen?

Mich interessiert grundsätzlich, was Menschen dazu veranlasst, für ihre Wertvorstellungen und Anliegen auf die Straße zu gehen. Es handelt sich dabei meist um Personen, die sich gegen soziale Ungleichheit einsetzen und zivilgesellschaftlich engagieren wollen. Dieses Grundinteresse hat mich auch dazu veranlasst, meine Dissertation diesem Themenkreis zu widmen. Im Zuge der Recherchen stellte ich fest, dass in Tirol dazu noch relativ wenig geforscht wurde. Erst in den letzten Jahren sind Initiativen, wie z.B. das Subkulturarchiv, entstanden, um Material zu sozialen Bewegungen in Tirol zu sammeln. Die Geschichte der sozialen Bewegungen in Tirol spiegelt sich auch in den Beständen des Dokumentationsarchivs Migration Tirol wider, das ich einige Jahre lang mitaufbauen durfte. Im Austausch mit anderen ForscherInnen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, fiel die Entscheidung, mein Dissertationskonzept speziell zu zivilgesellschaftlichem Engagement zu entwerfen.

Welche Rolle spielen dabei die „68er“?

Die so genannte „1968er-Bewegung“, die 2018 zum Anlass des 50-Jahr-Jubiläums auch medial sehr große Beachtung findet, bildet mehr oder weniger den Ausgangspunkt meiner Arbeit. Der weitere Zeithorizont erstreckt sich bis herauf ans Ende der 1980er-Jahre. Ich möchte herausarbeiten, was es in den Jahrzehnten dazwischen an sozialen Bewegungen in Innsbruck gegeben hat.

Welche Protest- und Widerstandsbewegungen gab es zur damaligen Zeit in Tirol?

Was ich derzeit, angesichts der großteils unbearbeiteten Quellen schon sagen kann, ist, dass in Tirol – im Vergleich zu den Protestbewegungen in Wien, aber auch zu jenen in Deutschland oder Frankreich – vergleichsweise wenig passiert ist. Dort sind die Studierenden und ihre Sympathisanten in Massen auf die Straße gegangen. In Tirol blieb es insgesamt recht ruhig, wenngleich doch die eine oder andere Aktion stattfand.

Lag die Konzentration auf dem Großraum Innsbruck oder gab es Proteste auch am Land?

Die 68er-Bewegung wurde sehr stark von Studierenden getragen. Dies erklärt auch, warum sich die Aktionen auf die Universitätsstadt Innsbruck konzentriert haben. Hinweise auf Aktionen im ländlichen Raum, etwa im Unterland, habe ich bislang nur sehr wenige gefunden.

Waren an den Protesten ausschließlich nur Jugendliche, Studierende und Kunstschaffende beteiligt?

Dies war länderspezifisch different, in Frankreich wurde zum Beispiel die Brücke zur Arbeiterschaft geschlagen. Dort hat es auch Streiks gegeben. Die Demonstrationen in Innsbruck – wie etwa Kundgebungen gegen den Vietnamkrieg, Podiumsdiskussionen und Teach-Ins – blieben relativ überschaubar. Die Organisatoren versuchten, die Bewusstseinsbildung voranzutreiben. Man hat Flugblätter verteilt, um die Bevölkerung über internationale Geschehnisse zu informieren. Die Größe dieser Gruppen lässt sich aufgrund des zur Verfügung stehenden Materials nur sehr schwer quantifizieren. Was man weiß ist, dass es einen harten Kern gab, der in Innsbruck in mehreren Gruppierungen aktiv war.

Gegen wen oder was richtete sich der Protest?

Es ging zunächst vor allem um einen antiautoritären Widerstand, um die Auflehnung gegen starre Normen. Man wollte alternative Lebensstile erproben, sich selbstverwirklichen und konservative Normen brechen. Das Ziel war ein gesellschaftlicher Wandel.

Durch die „68er“ wurde doch auch ein Demokratisierungsprozess eingeleitet?

Richtig. Ein Demokratisierungsprozess wird heute eng mit den „68ern“ verknüpft. Es ging darum, dass man sich organisiert und für bestimmte Themen und Forderungen auf die Straße geht. Abseits von vorhandenen Parteienstrukturen wollte man eigene Ziele durchsetzen. Dabei ließen sich die Aktivisten auch von Ideen anderer Länder inspirieren. Es kam zu einer starken internationalen Vernetzung. Insgesamt kann man im Zusammenhang mit den „68ern“ ganz klar von einer internationalen Bewegung mit länderspezifischen Ausformungen sprechen.

Spielten bei den Protestbewegungen in Tirol auch Künstler eine Rolle?

Bis dato habe ich diesbezüglich nur wenige Hinweise gefunden, auf die österreichische „68er-Bewegung“ trifft dies aber ohne Zweifel zu. Beispielsweise haben Kunstschaffende des Wiener Aktionismus durch ihre provokativen Aktionen große Aufmerksamkeit erlangt. Manche sprechen daher davon, dass in Österreich die Rebellion vor allem von KünstlerInnen ausging.

Gibt es weitere Spezifika der Bewegung in Österreich?

In Österreich ist sehr vieles über die ÖH abgelaufen. Der Widerstand war durch die Nähe zu Parteistrukturen dementsprechend zaghaft. Man wollte sich spätere Karrieremöglichkeiten nicht verbauen. Ein anderes Österreich-Spezifikum ist die Sozialpartnerschaft. Konflikte wurden in den 70er-und 80er-Jahren weitgehend über diese ausgetragen. Deshalb gab es auch keine Zuspitzung der Lage wie etwa in Deutschland.

Welche Gruppierungen haben sich aus der „1968er-Bewegung“heraus entwickelt?

In Innsbruck haben sich in Folge der „68er“ verschiedene Gruppierungen gebildet – an der Uni formierten sich etwa so genannte Basisgruppen, die für verschiedene Aktionen verantwortlich zeichneten. Anfang der 1970er-Jahre war z.B. die Kommunistische Gruppe Innsbruck aktiv, die unter anderem das Rektorat besetzte. Zu nennen sind diesbezüglich auch die starken, österreichweit relevanten, feministischen Gruppierungen, als Teil der so genannten zweiten Frauenbewegung. Deren Aktivistinnen setzten sich für die Gleichstellung von Mann und Frau und für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ein. Aus dieser Bewegung ist etwa der Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft hervorgegangen, der bis heute in Innsbruck wichtige Arbeit in der Beratung von Frauen leistet. Nicht zu vergessen sind des Weiteren die Umwelt-, die Anti-Kriegs- oder die Anti-Atomkraft-Bewegung. Kennzeichnend für sie war es auch, dass sie eigene Publikationen veröffentlichten, um über die damaligen Kommunikationskanäle eine Art Gegenöffentlichkeit herzustellen.

Welche aus diesen Bewegungen hervorgegangenen Gruppen gibt es heute noch?

Der Ende der 60er-Jahre eingeleitete Demokratisierungsprozess spiegelt sich heute ideell in verschiedenen Bewegungen und Strömungen wider, die versuchen, die Gesellschaft zu verändern. Er zeigt sich im Einsatz für die Belange von Frauen oder auch für Minderheiten – z. B. MigrantInnen. Viele der Initiativen lösten und lösen sich nach einer bestimmten Zeit wieder auf. Andere spezialisierten sich und gründeten Vereine oder NGOs, die sich erfolgreich um Subventionen bemühten. Einrichtungen – wie der Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft oder das Zentrum für MigrantInnen in Tirol – sind aus sozialen Bewegungen hervorgegangen. Sie existieren noch heute und leisten wichtige Arbeit. Man kann also von Institutionalisierungsprozessen sprechen, die in sozialen Bewegungen stattgefunden haben. Manche haben auch versucht, innerhalb der vorhandenen Strukturen bzw. Parteien Fuß zu fassen und von innen heraus Veränderung in Gang zu setzen. Mit der Zeit wurden viele jedoch Teil des gesellschaftlichen Gefüges.

Auf welche Details bist du noch gestoßen?

Mich interessiert sehr, welche Ausformungen verschiedenste soziale Bewegungen in einem Bundesland wie Tirol mit doch sehr massiven katholischen Mehrheitsverhältnissen angenommen haben. Ich werde mich z.B. näher der offenen Jugendarbeit widmen, die in Innsbruck von Pater Sigmund Kripp ausgegangen ist und möchte eruieren, welche Rolle dieses Jugendhaus auch als Sozialisationsort gespielt hat bzw. inwieweit sich die Jugendlichen später zivilgesellschaftlich engagiert haben.

Wie bewertest du die längerfristigen Auswirkungen dieser Bewegungen auf Politik und Gesellschaft?

Es gab keine starre Bewegung, sondern vielmehr ein vielfältiges Potpourri an Strömungen und Gruppierungen mit verschiedensten Aktionen, Ideen und Forderungen. Direkt daraus ablesbare Erfolge oder auch Auswirkungen auf die Politik sind immer sehr schwer zu beurteilen. Es hat aber sicher eine kulturelle Öffnung, ein Demokratisierungs- und Internationalisierungsprozess in Österreich stattgefunden, und zweifellos wurde auch die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe gestärkt.

 

Text und Interview: Raimund Mühlburger, Fotos: Martin Lugger, Subkulturarchiv, DAM

22. September 2018 um