St. Johann i.W.: Mit der „Gondelbahn“ nach Oberleibnig

Oberleibnig ist eine Fraktion der Iseltaler Gemeinde St. Johann im Walde. Über Jahrhunderte hinweg war das kleine Dorf auf 1.244 Metern Seehöhe nur zu Fuß erreichbar.

Es ist ein regnerischer Tag im Frühsommer 2020. Gemeinsam mit Fotograf Martin Lugger warten wir um die Mittagszeit in St. Johann im Walde darauf, mit der Seilbahn nach oben – in die Fraktion Oberleibnig – zu gelangen. Mit uns sind auch zwei freundliche Mitarbeiterinnen des örtlichen Kindergartens und vier der ihnen anvertrauten Kinder, unter ihnen Laurin und seine Cousine Emma, vor Ort. Als die beiden Volksschulkinder Sara und Fabian eintreffen, geht alles sehr schnell. Gemeinsam besteigen wir die Kabine der Seilbahn, die im Fachjargon von Seilbahnexperten unter „landwirtschaftliche Materialseilbahn mit Werksverkehr“ gereiht wird. „Was wollt ihr denn bei uns in Oberleibnig“, will der vierjährige Laurin wissen und erzählt uns in seiner quirlig-frischen Art auch gleich, dass die Maschinistin der Seilbahn seine Oma Maria ist. Mit ihr und ihrem Mann Franz Stemberger, dem Obmann der Bringungsgemeinschaft Seilbahn St. Johann im Walde/Oberleibnig, sind wir verabredet. Von ihnen wollen wir mehr über die Geschichte der Bahn und das Leben hoch oben am Berg erfahren.

 

Während der Kindergarten- und Schulzeit fahren Laurin, Emma, Sara und Fabian jeden Tag mit der Bahn ins Tal und mittags wieder retour. Für sie ist dies längst schon Routine – zu jeder Jahreszeit und bei unterschiedlichen Witterungsbedingungen.

 

Innerhalb kurzer Zeit erreichen wir die Bergkuppe und genießen im Blick zurück die nicht alltägliche Perspektive auf St. Johann im Walde und auf das Iseltal in Richtung Lienz. Kurze Zeit später gleitet die Gondel an der denkmalgeschützten Kapelle Maria Schnee aus dem 17. Jahrhundert vorbei – und für uns eröffnet sich ein erster Blick auf Oberleibnig. Die kleine Ortschaft mit knapp unter 100 Einwohnern liegt auf einer sonnigen Hochterrasse in wunderschönidyllischer Lage, und man versteht sofort, warum so mancher meint, dass es sich hier „so gut leben lässt wie auf der Alm“. Vor uns befindet sich nun auch schon die „Bergstation“ der Bahn, die wir nach einer Fahrzeit von knapp zehn Minuten erreichen. Herzlich begrüßt von Maria und Franz Stemberger, werden wir von den beiden auch sogleich mitten hinein in die Materie „Seilbahn“ geführt. „Über Jahrhunderte hinweg war Oberleibnig nur zu Fuß erreichbar. Ein erster Seilaufzug mit Winde wurde im Jahre 1937 projektiert“, informiert Franz und verweist darauf, dass im Laufe der Jahre alles Mögliche – von Baustoffen bis hin zu Tieren – transportiert wurde. Dass damals, wenn auch von der Behörde offiziell nicht erlaubt, auch Personentransporte vorgenommen wurden, gilt in St. Johann i.W. und Oberleibnig als offenes Geheimnis.

 

Maria Stemberger ist seit über 30 Jahren, mit Ausnahme einer fünfjährigen Pause, mit Arbeiten rund um die „landwirtschaftliche Materialseilbahn mit Werksverkehr“ beschäftigt. Sie übt ihre Aufgaben professionell und gelassen aus, man merkt ihr ihre Erfahrung an.

 

Franz ist seit sieben Jahren als Obmann der Bringungsgemeinschaft Seilbahn St. Johann/Oberleibnig tätig, die im Jahre 1977 gegründet wurde. Heute gehören der Bringungsgemeinschaft rund 35 Mitglieder an, die alle als „berechtigte Benützer“ gelten. „Die Seilbahn wurde 1960 geplant, von 1961 bis 1964 erbaut, und 1965 in Probebetrieb genommen. Bis 1977 galt die Bahn als ,öffentlicher Bereich‘, seit 1977 läuft sie unter landwirtschaftliche Materialseilbahn mit Werksverkehr“, wirft Maria ein und berichtet, dass die Bahn nach einer ersten Modernisierung (1999) im Jahre 2009 automatisiert wurde. Mit den 1999 neu installierten Gondelkabinen zeigte sich die Bevölkerung übrigens zu Beginn nicht zufrieden, hatte man doch vergessen, die Befestigungsösen für Särge anzubringen.

 

 

Einen eigenen Friedhof gibt es in Oberleibnig bis heute nicht. Die Särge wurden deshalb, sobald eine erste Materialseilbahn bestand, über einen längeren Zeitraum hinweg immer mit dieser ins Tal befördert. Daraus erklärt sich auch der im Dorf bekannte Spruch „Seine letzte Reise tritt jeder Oberleibniger mit der Bahn an.“ Rechtlich zuständig ist die Agrarbehörde und verantwortlich für die einmal im Jahr durchgeführte Revision bzw. Wartung der Seilbahn nach Oberleibnig ist die Agrar Lienz, deren Mitarbeiter die insgesamt 12 „landwirtschaftlichen Materialseilbahnen mit Werksverkehr“, die es in Osttirol gibt, betreuen. Alle drei Jahre werden die technischen Einrichtungen von Technikern aus Innsbruck kontrolliert.

 

Die Seilbahn (im Blick die Station in Oberleibnig) schaltet sich übrigens bei Übergeschwindigkeit und bei Windspitzen ab 40 km/h automatisch ab bzw. um. Die Fahrgeschwindigkeit wird vermindert. Die Windgeschwindigkeit wird mit einem Messgerät bei Stütze 3 gemessen.

 

Bringungsgemeinschaft-Obmann Franz Stemberger hat, wie er weiter erzählt, seine Schulzeit noch in Oberleibnig verbracht. Seitdem die Schule 1981 aber aufgelassen wurde, fahren die Mädchen und Buben aus dem Dorf mit der Bahn ins Tal. Jeden Morgen und Mittag während der Kindergarten- und Schulzeit achtet seine Frau Maria darauf, dass die Kinder gut nach St. Johann und wieder retour kommen. Zu ihren Aufgaben als Maschinistin gehört es auch, die Gondel dann in Bewegung zu setzen, wenn sie ein Anruf vom Bahntelefon im Tal unten erreicht. „Früher musste man viele Stunden vor Ort sein. Heute erfolgt die Verständigung, dass Fahrgäste die Seilbahn benützen möchten, per Handy“, meint sie und betont, dass sie von ihrem Zuhause, dem direkt hinter der Gondelstation gelegenen „Stembergerhof“, nur wenige Schritte bis zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen muss. „Im Automatikbetrieb bewältigt die Bahn 2,5 Meter pro Sekunde, im Maschinistenbetrieb sind es satte 4 Meter“, teilt sie mit und lässt uns auch einen Blick in den Maschinenraum der Seilbahn werfen. Mit der Gondelbahn fahren natürlich nicht nur Kindergarten- und Schulkinder, mit ihr gleiten auch Jugendliche und Erwachsene sicher ins Tal – nicht nur jetzt während der Sanierungsarbeiten an der Straße nach Oberleibnig. „Bei Versammlungen, Musikproben und so manchem Fest wird gerne auf das Auto verzichtet“, zählt Franz einige Beispiele auf. „Jedes Mitglied der Bringungsgemeinschaft hat einen eigenen Schlüssel und kann die Bahn eigenständig benützen.“

 

Maria und Franz Stemberger in der „Kuchl“ des bäuerlichen Anwesens, zu dem auch 41 ha Wald gehören. Die Arbeit der Bauern ist, wie sie erzählen, in den vergangenen Jahren nicht einfacher geworden. Der Milchpreis ist sprichwörtlich „im Keller“. Unattraktiv ist auch der aktuelle Viehpreis – und im Wald hat insbesondere der enorme Schneefall im November 2019 große Schäden angerichtet.

Der wunderschöne Blumenschmuck rund um den Stembergerhof ist für Maria Hobby und Ausgleich zu den vielen anderen Arbeiten,
die tagtäglich anstehen.

 

Für ihn und seine Frau ist die „Gondelbahn“ längst schon ein fixer Bestandteil ihres Lebens geworden. Ihr Hauptaugenmerk gehört aber ihrer Familie und dem familieneigenen Bergbauernbetrieb, den Franz im Alter von 26 Jahren übernommen hat und den er seit der Hochzeit im Jahre 1982 gemeinsam mit Maria, einer gebürtigen Glanzerin, führt. Trotz ihres ohne Zweifel sehr arbeitsreichen und auch nicht von Schicksalsschlägen verschont gebliebenen Lebens strahlen die beiden eine tiefe Zufriedenheit aus. „Ohne Zusammenhalt geht es nicht“, ist sich Maria sicher und erzählt von ihren sechs Kindern, von denen drei bis heute in Oberleibnig ihr Zuhause haben. In der „Kuchl“ des Stembergerhofes, in die uns die beiden zum Abschluss unseres Besuches einladen, fällt an der Wand ein von einem alten Fenster umrahmter Spruch ins Auge: „Wir haben vielleicht nicht alles, was wir wollen. Aber zusammen sind wir alles, was wir brauchen!“

Daran und an die herzliche Gastfreundschaft der Stembergers denken wir, als wir mit der „Gondelbahn“ nach St. Johann im Walde fahren – und wieder in den Alltag unten im Tal eintauchen.

 

Text: Elisabeth Hilgartner, Fotos: Martin Lugger

05. Juli 2020 um