Interview mit Dekan Dr. Franz Troyer: Kann Kirche „Jugend“?

Warum gehen junge Leute nicht mehr in die Kirche? Wie kann man einen Zugang zu Heranwachsenden finden? Diese und ähnliche Fragen stellten wir dem Lienzer Dekan.

 

Dekan Dr. Franz Troyer: „Die Auseinandersetzung mit den Lebenswelten, Themen und Denkweisen der Jugendlichen lohnt sich. Den Weg gemeinsam mit den Jungen zu gehen, kann eine Chance für die katholische Kirche sein.“ Foto: Martin Lugger

 

Herr Dekan, vor Kurzem war Bischof Hermann Glettler zu Besuch in Osttirol. Er nannte die „Jugendarbeit“ als einen der Schwerpunkte der katholischen Kirche in Tirol im heurigen Jahr. Können Sie uns dazu Näheres sagen?

Bischof Hermann erinnert uns kirchliche MitarbeiterInnen immer wieder daran, dass wir auf die Jugendlichen offen zugehen und auch dorthin gehen sollen, wo sich die Jugendlichen gerne treffen. Jugendarbeit ist herausfordernd und meist keine Erfolgsstory. Es ist aber wichtig, den Blick neu zu schärfen. Bei der Jugendarbeit geht es zuallererst nämlich darum, ein aufmerksames Ohr und Herz für die Jugendlichen und Interesse an dem zu haben, was sie beschäftigt. Wir müssen aufhören, die jungen Leute zu allem Möglichen zu „vergattern“, und uns mehr fragen, wie wir sie in ihren Fragen und auch Ängsten begleiten können. Die Frage, ob sie beten und in die Kirche gehen, ist wichtig, aber nicht die einzige. Wer junge Menschen nur nach diesen zwei Kriterien beurteilt, tut ihnen Unrecht und versperrt sich oft selbst wertvollen Begegnungen mit ihnen.

Wie wichtig ist Ihnen persönlich als Seelsorger der Zugang zu jungen Menschen?

Zunächst möchte ich betonen, dass ich mit Jugendlichen eine große Freude habe und auf einige von ihnen stolz bin. Durch ihr Engagement in der Pfarre sind in den letzten Jahren so manche zu wertvollen Persönlichkeiten herangewachsen. Das ist ein wesentlicher Grund, warum ich gerne Pfarrer bin. Junge Leute, die jahrelang ein Kinderlager organisiert oder eine Kindergruppe begleitet haben, kann man sofort zum Personalchef einer Firma machen. Sie spüren instinktiv, wie Motivation gelingt, wann es Strenge und wann Güte benötigt. Es ist einfach motivierend, ihren Charme und ihre Begeisterung zu erleben. Es freut mich sehr, dass zwei Jugendliche in der Pfarre St. Andrä eine Kindergruppe begleiten oder andere ihr musikalisches Talent bei Gottesdiensten einbringen. Von manchen lerne ich Idealismus, auch wenn ich nicht jede Meinung teile. Zum Glück leben viele statt nach dem Motto „Das geht nicht!“ eher nach dem Motto „Das probieren wir jetzt einfach!“ Meine Erfahrung ist, dass viele Jugendliche dort, wo sie einen Sinn sehen, bereit sind, alles zu geben.

Welche Stimmung, welche Haltung gegenüber der Kirche erleben Sie bei jungen Menschen im Bezirk Lienz?

Vieles kann ich noch nicht einschätzen, weil ich erst seit gut einem Jahr wieder in Osttirol bin. Das Denken über die Kirche wird wohl sehr verschieden sein. Ich vermute, dass die Jugendlichen in unseren Dörfern hauptsächlich im Rahmen von Feiertagen, bei Begräbnissen und über Vereine Kontakt zu ihrer Pfarre haben. Ich wünsche mir, dass diese Kontakte nicht nur Pflichtübung oder Brauchtum sind. Meine Aufforderung an sie wäre: „Habt den Mut, mehr zu tun als eure Pflicht und vor allem nachzufragen, was am Lebensprogramm Jesu revolutionär ist und euer Leben bereichern kann!“

Sie waren bis 2018 in Innsbruck tätig. Wie groß ist der Unterschied zwischen Stadt und Land – auch in Bezug auf Jugend und Kirche?

Ich hatte in Innsbruck das Glück, in sehr engagierten Pfarren zu arbeiten und dort viele MinistrantInnen und pfarrliche Jugendgruppen zu erleben. Die jährlichen Jugendreisen waren nicht nur für die Jugendlichen ein Gewinn, sondern auch für mich. Ich habe den Eindruck, dass die jungen Menschen in Innsbruck über mehr Angebote verfügen als ihre Altersgenossen in Osttirol. Viele Möglichkeiten zu haben, bedeutet aber auch ein zweischneidiges Schwert: Natürlich sind sie eine Chance, gleichzeitig aber auch eine Überforderung. Manche kommen unter die Räder, weil sie alles gleichzeitig tun wollen oder auch müssen, weil sie sich alle Türen offenlassen wollen und in der großen Anonymität der Stadt niemand da ist, der sie
auffängt, wenn sie eine Krise erleben. Und Krisen machen einfach einen Teil des Heranwachsens aus. Ich wünsche allen Jugendlichen, dass sie einen Bereich finden, in dem sie nicht nur konsumieren, sondern aktiv mithelfen können. Das aktive Engagement ist heilsam und fördert die Persönlichkeitsentwicklung.

Es gibt Studien, dass ein nicht geringer Prozentsatz der Jugendlichen zwar an Gott glaubt und auch betet, aber nichts von Kirchen hält. Wie sehen Sie das?

In der heutigen Gesellschaft verlieren Großinstitutionen immer mehr an Bedeutung. Das gilt auch für die Kirche. Den Satz „Ich kann gläubig sein – auch ohne Kirche!“ höre ich jedenfalls oft. Zum Glück ist Gott viel mehr als die Kirche, zum Glück gibt es viele Formen, Gutes zu tun und Gott zu begegnen. Gott sei Dank brauche ich fürs Beten nicht eine Bestätigung des Pfarrers. Warum ich trotzdem ein großer Fan der Kirche bin – nebenbei auch der Kirche mit ihren Fehlern? Christentum ist keine Religion zur Selbstverwirklichung des Einzelnen. Wir sind auch für die anderen da. Wenn ich zur Hl. Messe gehe und mich in der Kirche engagiere, dann tue ich etwas für die Gemeinschaft.

Wie würden Sie denn in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen „gläubig“ und „religiös“ definieren?

„Gläubig“ zu sein heißt für die meisten Menschen an Gott oder eine überirdische Kraft zu glauben, die größer ist als ich und mir helfen kann. Der Ausdruck „religiös“ leitet sich vom lateinischen Wort „religare“ ab, was „zurückbinden“ und „festbinden“ bedeutet. Als religiöser Mensch binde ich mich demnach an Gott und die Gemeinschaft der Kirche und erlebe wie bei einer guten Freundschaft und Ehe dies nicht als ein Angefesseltsein, sondern als Halt, Heimat und Sicherheit. Viele bezeichnen sich als gläubig, aber nicht als religiös. Sie erleben die Kirche nicht als Instanz, die ihnen hilft, den Kontakt zu Gott zu pflegen, sondern aufgrund ihrer Lehre und Regeln sogar als einengend. Eines ist klar: Kirche ist kein Selbstzweck. Sie hat die Aufgabe, Räume für die Gottesbegegnung zu öffnen. Das ist unser Auftrag!

Wie sehr hat Kirche als moralische Instanz in Folge der weltweiten Missbrauchsskandale gelitten? Spielt Glaubwürdigkeit nicht gerade bei jungen Menschen eine enorme Rolle?

Österreichweite Umfragen zeigen, dass wir als Kirche sehr viel an Glaubwürdigkeit verloren haben! Die Kirche als Gesamtheit ist für den Großteil der Gesellschaft keine moralische Instanz mehr. Manches ist sogar kontraproduktiv. In Zeiten der schlimmen Missbrauchsskandale z.B. über Sexualmoral zu reden, das geht, wie ich meine, fast nicht mehr. Der Prozess, dies zu ändern, wird dauern. Was kann die Kirche konkret tun? Was wird schon getan? Für den Gewinn an Glaubwürdigkeit gibt es für mich zwei wichtige Ansätze: engagierte, glaubwürdige Menschen und der Blick auf die Botschaft Jesu. Meine Erfahrung ist die: Wenn sich jemand engagiert und für eine gute Sache einsetzt, dann kommt die Glaubwürdigkeit automatisch. Wichtig ist nur die Reihenfolge: Ich tue etwas, weil mir diese Sache oder diese Menschen wichtig sind, und nicht: Ich tue es, damit ich wichtig bin oder damit die Kirche wieder mehr Glaubwürdigkeit gewinnt. Jugendliche lassen sich nicht „verzwecken“ – und das ist gut so. Es ist so wertvoll, wenn junge Leute ganz konkret Menschen erleben, die für sie Leitpersonen oder sogar Vorbilder sind. Ich wünsche mir, dass es in jeder Pfarre Personen gibt, die sich ganz besonders für die Kinder und Jugendlichen einsetzen. Dann ändert sich auch vieles im Denken und im Handeln der Pfarren.

 

Foto: AdobeStock/Vibe Images

 

Wie sehr muss, wie sehr sollte und wie sehr kann denn die Kirche darauf eingehen, dass die Religion vieler Jugendlicher individualisiert ist?

Zunächst ist mir wichtig zu betonen, dass Glaube etwas sehr Persönliches ist. Glaube ist weder ein Einheitskleid noch eine Einheitssuppe. Jeder individuelle Mensch hat einen unendlichen Wert und ist nicht eine austauschbare Nummer. Der Blick auf den Einzelnen ist eine große Errungenschaft der Neuzeit. Es gehört zum Recht der Jugendlichen, dass sie keine Kopie ihrer Eltern sind. Schwierig wird es, wenn Individualismus Egoismus bedeutet und wir ganz vergessen, dass die stärkste Verbindung jene ist, etwas gemeinsam zu erleben und zu tun. Eine Gesellschaft ohne gemeinsame Feiertage und gemeinsamen Sonntag wird immer kälter, ärmer und härter.

Wo möchten Sie mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Sachen „Jugendarbeit“ im Seelsorgeraum Lienz Nord konkret ansetzen?

Einige Schritte, die wir in St. Andrä, Gaimberg und Thurn versuchen, möchte ich als Beispiel nennen: Wir fördern z.B. die Gemeinschaftserlebnisse der MinistrantInnen. Letztes Jahr gab es ein Völkerballturnier und die Möglichkeit, im Pfarrgarten St. Andrä im Zelt zu übernachten und bei Grillen und Musik einen netten gemeinsamen Abend zu verbringen. Der Pfarrgarten St. Andrä mit dem Fußballplatz soll ein guter Treffpunkt für Kinder, Jugendliche und Familien werden. Mit dem Jugendchor und verschiedenen Musikgruppen fördern wir hingegen das musikalische Talent. Den Jugendkreuzweg am Karfreitag um 5.00 Uhr früh möchte ich wieder gemeinsam mit der Landjugend/Jungbauernschaft gestalten. Wichtig ist mir, dass wir die Gottesdienste so feiern, dass die Kinder und Jugendlichen Anregungen für den Glauben erhalten und Schritt für Schritt auch mit den großen Bibelstellen vertraut werden. Die Vorbereitung auf Erstkommunion und Firmung soll Möglichkeiten für die Kinder, Jugendlichen und Eltern eröffnen, um Glaubenserfahrungen zu machen. Die Assisifahrt mit den Firmlingen bietet die Chance für tolle Gemeinschaftserlebnisse und dafür, das Lebensziel der beiden Heiligen Franziskus und Clara näher kennenzulernen. Allgemein gilt: Nicht alles Mögliche für die Kinder und Jugendlichen zu organisieren, sondern gemeinsam mit ihnen. Das ist ein großer Unterschied!

Was ist diesbezüglich die Aufgabe der Dekanatsjugendleiterin?

Ich bin sehr froh, dass wir mit Petra Egger eine tüchtige Jugendleiterin haben. Sie ist eine Meisterin im Vernetzen. Sie sucht den Kontakt zu Schulen, sie baut derzeit ein Dekanatsjugendteam auf und hat treffende Ideen. Beim Projekt zum Thema „Digitale Einsamkeit“ hat sie mit Jugendlichen erarbeitet, wie viele Menschen trotz Handy und Internet sehr einsam sind. Eine Erkenntnis dieses Projektes ist wohl jene, wie wichtig und unersetzlich der persönliche Kontakt ist. Das Büro von Petra steht für jede und jeden offen!

Welche Rolle spielt das Gebet? Warum kann Beten gerade für junge Menschen, die in ihrem Leben noch Suchende sind, hilfreich sein – quasi Gott als persönlicher Gesprächspartner?

Das Gebet ist ein spannendes Abenteuer, auch deswegen, weil es jederzeit möglich ist. Beim Gebet kreise ich nicht nur um mich selbst, sondern erfahre hoffentlich noch etwas viel Größeres: Da schaut jemand auf mich und ist ein super Gesprächspartner. Herausfordernd bleibt die Frage, wie ich den Gesprächspartner Gott auch hören und fühlen kann.

Es gibt den Spruch „Not lehrt beten“ und viele wissen aus eigener Erfahrung, dass man in Grenzsituationen Hilfe im Gebet sucht, auch wenn man nicht regelmäßig in die Kirche geht. Wie sehr kann denn Gebet in schwierigen Situationen helfen?

Die Bibel erzählt mehrfach, dass Gott besonders in schwierigen Situationen ganz nahe bei uns ist. Das Kreuz zeigt handfest, dass Jesus sogar die entwürdigende Kreuzigung für uns auf sich genommen hat. Es ist heilsam, unsere Sorgen und unseren Schmerz in Gedanken und oft auch sichtbar – mit einer Kerze oder z.B. mit einem Stein – vors Kreuz zu legen. Umgekehrt erscheint es mir auch wertvoll, in freudvollen Zeiten einen dankbaren Blick auf Gott zu richten. So wie ich schöne Erlebnisse gerne mit einem Freund teile, kann ich Gott auch dankbar von freudigen Geschehnissen berichten.

Vom deutschen Lyriker Novalis stammt das Zitat „Durch Gebet erlangt man alles. Gebet ist eine universelle Arznei.“ Würden Sie dem zustimmen?

Ja. Gleichzeitig warne ich vor der gefährlichen Meinung, mit Gebet alles erreichen zu müssen. Das klappt nicht. Oft führt diese Haltung zur Meinung, dass ich noch zu wenig gebetet habe, oder zur Enttäuschung, dass auch auf Gott kein Verlass ist. Die Bibel zeigt mehrfach, dass Gott kein Wunschautomat ist, den ich mit Worten oder mit Geld bediene. Gottes Wort ist kein Fastfood, wohl aber ein nahrhaftes Vollkornbrot. Wer daran kaut, bekommt Nahrung für Leib und Seele.

Hat ein Betender mehr Lösungen – auch wenn die Bitten nicht erfüllt werden?

Eines meiner Lieblingssprichwörter lautet: „Betende Menschen haben nicht weniger Probleme, aber mehr Lösungsmöglichkeiten.“ Davon bin ich zutiefst überzeugt. Probieren Sie es aus!

Danke für das Gespräch!

 

Interview: Josef Hilgartner; Fotos: AdobeStock, Martin Lugger

13. Februar 2020 um