Mit „Lebensfreude“ gegen Angst- und Panikattacken

Seit September 2023 gibt es im Osttiroler Pustertal für Menschen, die an psychischen Problemen wie Angst- und Panikattacken leiden, eine neue Anlaufstelle.

Jeden 1. Dienstag im Monat lädt die Selbsthilfegruppe „Lebensfreude“ im Vereinshaus Heinfels zu Gruppentreffen und Erfahrungsaustausch ein. Niemand ist frei von Angst, jeder kennt dieses Gefühl, handelt es sich dabei doch um einen angeborenen Mechanismus. Evolutionsgeschichtlich hat Angst die Funktion, die Wahrnehmung zu schärfen, Kräfte zu mobilisieren und den Schutz- und Überlebensmodus zu aktivieren. Kommt es zu einer bedrohlichen Situation, schüttet der Körper Adrenalin und Noradrenalin aus. Diese Stresshormone sind der Auslöser für Reaktionsketten, darunter die Freisetzung ungeahnter Kraftreserven, die den Menschen z.B. zur Flucht oder zum Angriff animieren. Ist die Gefahrensituation vorbei, verschwindet die Angst.

andere fürchten sich seltener. Für manche wird die Angst aber so übermächtig, dass ihre Möglichkeiten, ein normales Leben zu führen, stark eingeschränkt werden. Sie sehen sich in eigentlich ungefährlichen Situationen unvermittelt und plötzlich starken Ängsten und Panikgefühlen ausgesetzt. Typische Symptome, die auftreten, sind Herzrasen, Atemnot, Schwindel, Schweißausbrüche und Magenprobleme. Körper und Psyche befinden sich in einem absoluten Ausnahmezustand. Die Attacken können wenige Minuten oder, im Extremfall, einige Stunden anhalten. Ihre Häufigkeit variiert zwischen mehrmals täglich bis monatlich. Sie sind meist nicht an einen besonderen Auslöser gekoppelt, sondern treten wie aus dem Nichts heraus auf. Für Betroffene stellt dies eine zusätzliche Belastung dar, können sie sich doch nie wirklich sicher sein, eine Situation ohne Angst- und Panikattacke zu überstehen. „Dieses Nicht-Wissen, wann die nächste Attacke kommt, macht es noch einmal viel schwerer, damit umzugehen. Man beginnt, sich aus der Gesellschaft anderer zurückzuziehen, fühlt sich nicht zugehörig und isoliert. Man bleibt in seiner eigenen Welt gefangen und vereinsamt, was die Problematik aber weiter verstärken kann. Man gerät in einen Teufelskreis der Angst, aus dem man scheinbar nicht mehr entfliehen kann“, berichtet Sonja Bertolini. Die Sillianerin weiß, wovon sie spricht, war sie doch über Jahre hinweg selbst Betroffene. „Heute geht es mir wieder gut, auch wenn es lange gedauert hat, dorthin zu kommen, wo ich heute bin.“

 

Angst und Panik sind grundsätzlich keine seelische Erkrankung, sondern ein natürlicher Bestandteil der Persönlichkeit. Wenn sie
jedoch das Leben beherrschen, werden sie zur Störung.

 

Sonja ist es ein Anliegen, anderen Menschen, die an Angst- und Panikattacken leiden, unterstützend zur Seite zu stehen. Aus diesem Grund hat sie sich auch dazu entschlossen, die Leitung der neuen Selbsthilfegruppe „Lebensfreude“ im Osttiroler Pustertal zu übernehmen. „Es ist unglaublich hilfreich, zu wissen, dass man nicht alleine dasteht und dass es Menschen gibt, die ähnliche Probleme haben. Sich mit ihnen in einer überschaubaren, geschützten Gruppe zu treffen, die eigenen Sorgen und Ängste auszusprechen, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander bzw. miteinander zu lernen – das ist Sinn und Ziel einer Selbsthilfegruppe“, betont sie.

Die so wichtige Kommunikation unter Betroffenen streicht auch Wolfgang Rennhofer, Geschäftsstellenleiter der Selbsthilfe Tirol – Zweigverein Osttirol, heraus. „Selbsthilfegruppen sind kein Ersatz für eine medizinische oder therapeutische Behandlung. Sie stellen aber eine sinnvolle Ergänzung dar und bieten einen Erfahrungsaustausch auf Augenhöhe. Man erhält wichtiges Wissen, auch über Bewältigungsstrategien und den Umgang mit der Erkrankung, vermittelt und erfährt, was man tun kann, um die eigene psychische Gesundheit zu verbessern.“ Wolfgang leitet in Lienz selbst eine Selbsthilfegruppe, die sich „Lichtblicke“ nennt. Die Selbsthilfegruppe „Lebensfreude“ in Heinfels ist, wie er berichtet, die bereits 51. des Vereins der Osttiroler Selbsthilfe. „Ich bin sehr froh darüber, dass wir Betroffenen im Osttiroler Oberland nun vor Ort bzw. in der Nähe ein entsprechendes Angebot sichern können. Bislang mussten Interessierte nach Lienz kommen.“

Wie Sonja hat auch Wolfgang einen jahrelangen, schwierigen Weg hinter sich. Heute haben beide gelernt, ihre Ängste zu beherrschen. „Es gibt Atemtechniken und Strategien, die helfen. Man braucht aber jemanden, der darüber informiert und zeigt, wie es funktionieren kann.“ Als ersten Schritt heraus aus der Angststörung nennen sie die Notwendigkeit, dass sich Betroffene ihrer Situation bewusst stellen und sich medizinische Hilfe suchen. Nach der Diagnose können eventuell ein Krankenhausaufenthalt, vor allem aber auch Medikamente und therapeutische Sitzungen helfen. „Es ist ein langer Prozess, in dem man an sich selbst arbeiten muss. Es gibt keinen Knopfdruck und alles ist ganz schnell wieder gut.“ Beide Gruppenleiter berichten abschließend von den Aha-Erlebnissen Betroffener, wenn sie das erste Mal an den Selbsthilfetreffen teilnehmen. „Endlich versteht mich jemand“, sei eine Wortmeldung, die man sehr oft höre. „In den Selbsthilfegruppen wird man dazu ermutigt, selbst aktiv zu werden. Gemeinsam sucht man nach Antworten und Lösungen und kann es schaffen, die Lebensfreude zurückzugewinnen und den Alltag wieder in den Griff zu bekommen“, so Sonja und Wolfgang abschließend.

www.selbsthilfe-osttirol.at

 

Im Bild Sonja Bertolini mit dem Geschäftsstellenleiter des Vereins der Selbsthilfe Osttirol, Wolfgang Rennhofer

 

 

Text: Redaktion, Fotos: AdobeStock/Davivd, AdobeStock/Sirikarn Rinruesee, Osttirol Journal

10. Oktober 2023 um