Dr. Schmidt: „Viele Faktoren sprechen für eine Zunahme der Covid-Infektionszahlen!“

Wir sprachen mit Primar Dr. Martin Schmidt, ärztlicher Leiter am BKH Lienz, über die aktuelle Corona-Situation und seine Einschätzungen bezüglich Fallzahlen und Impfung.

Wie haben Sie als Leiter des Einsatz- und Krisenstabes am BKH Lienz das heurige Frühjahr mit Lockdown erlebt? Gab es einen Punkt, wo Sie und Ihre MitarbeiterInnen auch an die Grenzen der Belastbarkeit gestoßen sind?

Das Krankenhaus Lienz hat sehr früh begonnen, Maßnahmen zu ergreifen, um auf die verschiedenen Szenarien im Rahmen der COVID-Krise vorbereitet zu sein. Dies bedeutete für die MitarbeiterInnen schon eine erhebliche Belastung. Allerdings kam es in Osttirol ja, wie Sie wissen, nicht zu einer extrem hohen Anzahl behandlungspflichtiger, COVID-positiver-PatientInnen. Für mich persönlich war der größte Stress derjenige, nicht zu wissen, in welchem Ausmaß die Krise das Krankenhaus treffen wird und ob eine mögliche Ressourcenknappheit zu ultimativen Triage-Entscheidungen führen würde. Übrigens war es eine Maßnahme in diesem Zusammenhang, eine nicht weisungsgebundene Ethikkommission einzubinden.

Welche Lehren kann man daraus für die kommenden Herbst- und Wintermonate ziehen?

Jedes medizinische Versorgungssystem wurde mit der COVID-Krise mit einem neuen Phänomen herausgefordert. Die Erfahrungen und Erkenntnisse daraus haben wir im BKH Lienz in ganz konkreten Handlungsanweisungen und Strategien umgesetzt. Diese liegen inzwischen gewissermaßen in der Schublade parat. So gibt es für die verschiedenen Bereiche, Funktionen und Aufgabenstellungen strukturierte Algorithmen, anhand derer beispielsweise Aufnahmesituationen, der Umgang mit COVID-positiven-PatientInnen, Bettenmanagement, Teststrategien, Kommunikationsformen nach innen und außen, usw. exakt abgebildet und vorgeschrieben sind. Eine andere wesentliche Lehre ergibt sich aus meiner Sicht daraus, dass wir alles dafür tun müssen, einen zweiten Lockdown zu verhindern.  Meiner Einschätzung nach wird dies auch gelingen. Zu diesen hausinternen Lehren kommt hinzu, dass auch das Land Tirol inzwischen sehr gut mit den Kliniken vernetzt ist. Für evtl. Kapazitätsprobleme in einzelnen Krankenhäusern gibt es strukturelle Antworten, wie etwa Verlegungsmöglichkeiten von COVID-positiven PatientInnen nach Innsbruck.

Wie schätzen Sie das Virus aus heutiger Sicht ein – Stichwort „zweite Welle”?

An der Einschätzung des Virus hat sich aus meiner Sicht nichts geändert. Wir wissen inzwischen nur noch besser, als vor der ersten Welle, womit man es dabei zu tun hat. So können wir sehr viel genauer einschätzen, wie lange Krankheitsverläufe dauern, wie komplex sie sind und in welcher Dimension etwa die Mortalitätsrate einzuschätzen ist. Wir können auch ziemlich gut einschätzen, wie wirksam Präventionsmaßnahmen wie MNS, Hygienemaßnahmen, Abstand halten und die Verringerung von sozialen Kontakten sind. Natürlich gibt es viele Faktoren, die dafür sprechen, dass im Herbst und Winter mit einer erheblichen Zunahme an Neuinfektionen zu rechnen ist. Wenn es allerdings gelingt, rasch lokale und regionale Infektionsherde zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten, wird es keine zweite Welle unkontrollierten Ausmaßes geben. Aus diesem Grund haben wir in unserem Pandemieplan inzwischen einen Kriterienkatalog entwickelt, der uns hilft, die lokale und die regionale Situation rational einzuschätzen. Zu Beginn der ersten Welle gab es solche Kriterienkataloge noch nicht. Schnell und zielgerichtet lokal vorgehen zu können, ist aus meiner Sicht eine der wesentlichen Lehren aus der bisherigen COVID-19-Entwicklung.

Was sagen Sie jenen, die meinen, dass COVID-19 nicht gefährlicher als eine Influenza-Infektion ist?

Diesen Menschen empfehle ich, intensiv die einschlägige Literatur zu studieren und sich nicht auf demagogische Bauernfängerei einzulassen. Im Übrigen wird diese These ja, wie Sie wissen, hauptsächlich von Anhängern einer bestimmten politischen Couleur vertreten. Dagegen hilft, soweit ich dies beurteilen kann, am ehesten Faktenwissen und Aufklärung.

Wie in anderen Krankenhäusern wurden auch am BKH Lienz Operationen verschoben. Konnte man diese inzwischen durchführen?

Notoperationen wurden im BKH Lienz ebenso wie sämtliche andere Notversorgungen in allen Fächern zu jeder Zeit aufrechterhalten. Die Wartelisten sind inzwischen abgearbeitet, und der Regelbetrieb ist seit ungefähr zwei Monaten wieder gewährleistet.

Wie sieht die neue Normalität am BKH Lienz aus? Wie funktioniert die Besucherregelung, wie die Aufnahme neuer Patienten?

Zur neuen Normalität des BKH Lienz gehört, dass wir jederzeit in der Lage sind, innerhalb von wenigen Stunden die internen Krankenhausstrukturen so umzubauen, dass COVID-PatientInnen im stationären Bereich versorgt werden können. Neu ist auch, dass wir in Kürze in der Lage sein werden, sogenannte Verdachtsfälle innerhalb von 40 Minuten mit Hilfe eines COVID-Abstriches abzuklären. Diese PatientInnen müssen dann nicht mehr stationär aufgenommen werden, bis ein Testergebnis vorliegt. Die aktuelle Besucherregelung umfasst 2 Besucher pro Patient pro Tag, zeitlich versetzt für max. 30 Minuten. Die Ausnahmen zu dieser Regelung galten schon immer für behinderte Menschen, sterbende PatientInnen usw. Sollte sich die regionale Infektionslage in den nächsten Tagen ändern und sollten weitere Neuinfektionen im Bezirk auftreten, wird diese Besucherregelung voraussichtlich geändert werden. Dies ist aber zunächst abzuwarten. Grundsätzlich versuchen wir, mit möglichst wenig Restriktionen den Regelbetrieb aufrecht zu erhalten und gleichzeitig dem Gebot präventiver Vermeidung von hausinternen Infektionen nachzukommen. Dies stellt natürlich eine gewisse Herausforderung dar, insbesondere an die Flexibilität der MitarbeiterInnen, PatientInnen und BesucherInnen. Was die Aufnahme von PatientInnen betrifft, so wird nach wie vor bei jeder stationären Aufnahme ein COVID-Test durchgeführt. Nur so kann gewährleistet werden, dass sich innerhalb des Hauses keine Infektionsherde bilden können.

Wie läuft die Patientenbehandlung in den Ambulanzen ab? Gibt es dort uneingeschränkten Zutritt?

Die mit Abstand meisten PatientInnen kommen im Anschluss an eine Terminvereinbarung in unsere Ambulanzen. Sie müssen wie alle das Krankenhaus betretende Personen eine Triage durchlaufen. Dort werden mögliche Krankheitssymptome erfasst bzw. ausgeschlossen. Die Regelung über die Terminvergabe wird im Übrigen von den meisten PatientInnen sehr positiv gesehen, weil kaum Wartezeiten in den Ambulanzen entstehen. Ein weiterer Grund für die Terminierung von ambulanten Behandlungen liegt darin, dass wir, wie alle Krankenhäuser, Abstandsregelungen in den Warteräumen sicherstellen müssen. Eine Ausnahme von dem allem stellen natürlich AkutpatientInnen dar. Diese werden selbstverständlich auch ohne Termin untersucht und behandelt.

Gilt im gesamten Haus Maskenpflicht? Welche Masken tragen die MitarbeiterInnen?

Im gesamten Haus gilt seit Anfang März Maskenpflicht für MitarbeiterInnen, AmbulanzpatientInnen und noch nicht getestete stationäre PatientInnen. Im Normalbetrieb tragen die MitarbeiterInnen einen normalen MNS, in aerosolbildenen Untersuchungs- und Behandlungsbereichen werden FFP2- bzw. FFP3-Masken und Schutzkleidung verwendet.

In welchen Zeitabständen werden die MitarbeiterInnen getestet? Sind Tests verpflichtend?

MitarbeiterInnen werden nicht mehr regelmäßig getestet, sondern nur, wenn sie entweder in Kontakt zu COVID-Positiven standen oder wenn sie Symptome haben. Diese Tests sind von einem vernünftigen Standpunkt aus betrachtet selbstverständlich verpflichtend. Natürlich legt das Krankenhaus großen Wert darauf, dass sie durchgeführt werden. Bisher gab es bei den MitarbeiterInnen auch noch keine Testverweigerer.

Führt die Tests der Hygienebeauftragte Dr. Gernot Walder durch und werden diese vom Labor Walder ausgewertet?

Bisher wurden sämtliche Tests durch das Labor von Dr. Walder ausgewertet. Wenn wir in Kürze über ein PCR-Schnelltestgerät verfügen, werden Tests von uns selbst und zum Teil über das Labor Walder ausgewertet. Insbesondere in positiven Fällen muss eine Bestätigungsreaktion erfolgen, die wir selbst nicht durchführen können.

Gibt es derzeit im Krankenhaus einen Corona-Patienten?

Derzeit gibt es keine COVID-positive PatientInnen im BKH Lienz.

Wird das Triage-Zelt am Eingang wieder aufgestellt? Wenn ja, wann bzw. unter welchen Voraussetzungen?

Das Triagezelt wurde bereits nach wenigen Tagen durch Container ersetzt, und im weiteren Verlauf wurden diese Container wieder abgeholt, und die Triage 1 erfolgt in der bisherigen Rettungseinfahrt. An dieser Konstruktion wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern.

Was können Sie uns zu den Plänen sagen, dass nach Fertigstellung des neuen Gebäudes für das Gesundheitsbildungsinstitut eine eigene Infektions-Isolierstation eingerichtet wird?

Es gibt in der Tat die Idee, auf dem Gelände der bisherigen Krankenpflegeschule eine eigenständige Infektionseinheit zu errichten, mit dem Ziel, künftig isolationspflichtige InfektionspatientInnen – nicht nur COVID-positive – grundsätzlich nicht mehr innerhalb der normalen Krankenhausstrukturen behandeln zu müssen. Das Vorhalten von Infektionsbetten, vor allem im Pandemiefall, beeinträchtigt einen gesamten Krankenhausbetrieb massiv. So musste beispielsweise im BKH Lienz eine komplette internistische Station mit 35 Betten sowie eine Station für Unfallchirurgie und Orthopädie mit zusammen 30 Betten geschlossen werden. Die 2 Betten der „Stroke-Unit“ mussten provisorisch von der Intensivstation auf die Neurologische Station übersiedeln, 4 neurologische Betten und 3 psychiatrische Betten wurden gleichfalls geschlossen. Zeitweise mussten bis zu 6 Intensivbetten für „COVID-positive PatientInnen“ aus dem Regelbetrieb ausgegliedert und bis zu 10 vorgehalten werden. Für das Ein- und Ausschleusen mussten für alle, teilweise bis zu 4 „COVID-Bereiche“, provisorische Schleusen errichtet werden: Diese sind nur vorübergehend in diesem Zustand zu betreiben. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass es künftig und wahrscheinlich auch häufiger zu krisenhaften Ereignissen wie der aktuellen Corona-Krise kommen wird. Ein peripheres Krankenhaus mit einem hohen Versorgungsauftrag wird sich deshalb aus meiner Sicht darauf einstellen müssen, neue Versorgungsstrukturen zu entwickeln. Ein Rahmenkonzept dafür wurde bereits Landeshauptmann Günther Platter und Landesrat Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Bernhard Tilg unterbreitet.

Werden alle MitarbeiterInnen im Herbst routinemäßig Grippe geimpft?

Wie Sie wissen, sind Grippeimpfstoffe derzeit nicht im ausreichenden Umfang lieferbar. Über das Krankenhaus wurden zwar rechtzeitig insgesamt 600 Impfeinheiten bestellt, ein Liefertermin wurde uns bisher nicht zugesagt. Außerdem scheint es so zu sein, dass in anderen Regionen von Österreich der Grippeimpfstoff einfacher zu erhalten ist. Hier sehe ich eine Ungleichbehandlung von Regionen, welcher ich sehr kritisch gegenüberstehe. Sollten die bestellten Impfeinheiten geliefert werden, können sich die MitarbeiterInnen des Krankenhauses kostenlos impfen lassen.

Wann rechnen Sie als Mediziner mit einer Corona-Impfung?

Aktuell befinden sich 9 Impfstoffe europaweit in der klinischen Studienphase 3. Welcher Impfstoff davon überhaupt marktfähig sein wird, ist ebenso unklar wie die Frage, wer sich, aus welcher Altersgruppe, wie oft, mit welchem Impfstoff, in welchen Zeitabständen impfen lassen sollte. Insofern lautet die Frage nicht nur, wann wird ein Impfstoff vorhanden sein, sondern auch, welche Impfmodalitäten sind für wen die richtigen. Diese zweite Frage wird sicherlich erst im Verlauf der nächsten 1 bis 2 Jahre nach Zulassung eines Impfstoffes wissenschaftlich geklärt werden können. Erste Impfstoffe werden meiner Einschätzung nach in den nächsten 3 bis 6 Monaten am Markt zur Verfügung stehen.

Sollte bereits im Jänner nächsten Jahres eine Impfung zur Verfügung stehen, würden Sie sich impfen lassen?

Ich würde mir zunächst die wissenschaftliche Literatur zu diesem Impfstoff sorgfältig durchlesen. Sollte für einen Impfstoff eine ausreichende Wirksamkeit nachgewiesen sein und gleichzeitig die Impfsicherheit ausreichen, würde ich mich selbstverständlich impfen lassen. Die für mich viel interessantere Frage lautet aber, wie der politische Diskurs entschieden wird, ob es eine Impfpflicht geben sollte oder nicht.

 

Interview: Raimund Mühlburger, Foto: Martin Lugger

16. September 2020 um