Primar Dr. Martin Schmidt: Was macht die Pandemie mit unserer Psyche?

Kinderbetreuung, Home-Office, gereizte Stimmung vielerorts und die Unsicherheit über die Zukunft – der Stress und die Belastungen in der Coronakrise können aufs Gemüt schlagen.

Ob sich eine Zunahme an psychischen Erkrankungen abzeichnet, welche Altersgruppe besonders betroffen ist und wie sich unsere Gesellschaft ändern wird, wollten wir vom Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am BKH Lienz, Primar Dr. Martin Schmidt, wissen.

In diesen Tagen ist vieles völlig anders. Der Rückzug in den privaten Raum, Einsamkeit als Folge staatlich verordneter Maßnahmen, Home-Office & Home-Schooling, Angst vor der Covid-19-Erkrankung, Existenzängste und insbesondere die Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Pandemie – auf diese und andere Auswirkungen der Corona-Krise reagiert natürlich auch unsere Psyche. Sowohl bei gesunden wie auch bei psychisch bereits vorerkrankten Menschen kann dies zu Depressivität, Angstzuständen, Schlafstörungen, Stress und Wut führen.

Angst als Reaktion auf den Ausbruch des Virus

Darauf weist auch Dr. Martin Schmidt hin und zitiert Untersuchungen aus Österreich und Deutschland, die sich mit den Auswirkungen von Quarantäne und Lockdown beschäftigten. „Wie eine Studie aus Hamburg belegt, empfanden bereits nach zwei Wochen nach Beginn der ersten Welle 48 Prozent der Befragten die Corona-Pandemie als eine Bedrohung. Sie erlebten die Pandemie als etwas Unheimliches, das sie nicht kannten“, nimmt der erfahrene Psychiater auf die erste Pandemiephase ab Mitte März 2020 Bezug. „Die Gefahr war neu, und so mancher hat mit Angst und z.T. auch Panik auf den Ausbruch des Virus reagiert.“

Die zweite Welle, wiederkehrende Herausforderungen und Belastungen

Ab dem Frühsommer 2020 schien dann kurzfristig alles unter Kontrolle zu sein, die Infektionszahlen waren niedrig, und viele genossen sichtlich ihre wiedergewonnene Freiheit. Umso heftiger gestaltete sich, wie man heute weiß, die zweite Corona-Welle und die verbundenen, erneuten Lockdowns stellten die Gesellschaft vor wiederkehrende Herausforderungen und Belastungen. Als Folge des zunehmenden Problems von Isolation, Einsamkeit und Langeweile kam es u.a. zu einem Anstieg von Aggression in Familien und von häuslicher Gewalt. „Je länger die Pandemie andauert, desto deutlicher wird diese Entwicklung“, so Primar Dr. Schmidt. „Studien der Universität Krems, der Universitäten Innsbruck und Wien, des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie, um nur einige zu nennen, lassen außerdem erkennen, dass Alkohol und andere psychotrope Substanzen als gezielte Kompensation vermehrt eingesetzt werden und dass auch Menschen mit psychischen Vorerkrankungen sehr rasche Zustandsverschlechterungen beschreiben.“

 

 

Kinder und Jugendliche als vulnerable Gruppe

Menschen mit erhöhter Vulnerabilität für stressige, außergewöhnliche Lebenssituationen würden, so der Leiter der Psychiatrischen Abteilung am BKH Lienz, besonders anfällig auf den völlig veränderten Alltag reagieren. Nicht zu unterschätzen sei, dass auch bis dahin scheinbar stabile Personen aufgrund der Wucht und der Dauer des Krisen-Ereignisses aus dem seelischen Gleichgewicht herausfallen. „Aus meiner Sicht spielt dabei das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Geschehnissen, übrigens durchaus in Analogie zu traumatisierenden Prozessen, eine ganz wesentliche Rolle“, betont Schmidt und nennt in diesem Zusammenhang, entwicklungsbedingt, insbesondere Kinder und Jugendliche als eine von den Pandemiemaßnahmen besonders betroffene Bevölkerungsgruppe. „Bereits ganz gut nachgewiesen ist, dass sich die Lebensqualität dieser Gruppe erheblich verschlechtert und Angst sowie depressive Symptome innerhalb weniger Wochen etwa doppelt so häufig aufgetreten sind als vor der Pandemie.“

Es kann jeden treffen!

Offen bleibe hingegen noch, was diese Befunde mittel- und langfristig bedeuten. „In den nächsten Monaten und Jahren werden bestimmt noch wesentliche Erkenntnisse zu diesen Fragen veröffentlicht werden. Vieles ist naturgemäß noch im Ungewissen. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass die psychischen Folgen der Corona-Krise grundsätzlich jeden betreffen können und nicht nur besonders vulnerable Personen.“

Typische Symptome, frühzeitige Hilfestellung

Nicht zu unterschätzen sei, so der Mediziner, die Tatsache, dass die Behandlungskontinuität bereits erkrankter Menschen durch die coronabedingt reduzierte Versorgung in vielen Fällen unterbrochen werde. „Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen basieren gerade auf diesem Prinzip. Wenn die therapeutische Hilfestellung zeitweise entfällt, können Symptome gehäuft wiederauftreten. Dies gilt vor allem für PatientInnen mit chronischen, instabilen Behandlungsverläufen. Unabhängig davon wird aber auch vielfältig in Studien gezeigt, dass Angststörungen und Depressionen als Erstmanifestationen während der Pandemiezeit auch bei Menschen zugenommen haben, die bisher stabil waren.“

Auch am BKH Lienz mussten als Folge der Lockdowns die Ambulanzangebote erheblich reduziert und die Zahl der stationären Aufnahmen auf akute und schwere Fälle beschränkt werden. „Weniger akute Probleme versuchen wir telefonisch mit den Betroffenen zu besprechen und gemeinsam mit ihnen Strategien zu entwickeln“, umreißt der Lienzer Psychiater das Bemühen um jeden einzelnen Patienten, der Hilfe sucht. Die rasche Inanspruchnahme von Hilfestellung bei Auftreten psychischer Störungen sei, so Schmidt weiter, sehr wichtig – und dies unabhängig von der Pandemie. „Grundsätzlich gilt, dass eine frühe Behandlung von psychischen Störungen die bessere Behandlung ist, weil Chronifizierungs-Prozessen damit entscheidend entgegengewirkt werden kann. Häufig sind psychische Erkrankungen dann aber auch prognostisch gesehen besser zu behandeln, u.a. weil Nebenfolgen der Erkrankung, welche dann selbst wieder Belastungsfaktoren darstellen, vermieden werden können.“ Als typische körperliche Beschwerden, die auf eine beginnende psychische Störung hindeuten könnten, zählt er Schlafstörungen, häufige Kopfschmerzen oder andere Schmerzzustände, Herzrasen, vorübergehende erhöhte Blutdrücke mit oder ohne Schwindelsymptomen sowie eine reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit auf.

Mehr Selbstmorde?

Abwartend vorsichtig beantwortet Martin Schmidt die Frage nach einem Anstieg der Selbstmordrate. „Die genauen Zahlen der für die Erfassung der Suizide zuständigen Behörden und statistischen Ämter liegen für 2020 noch nicht vor. Zwar wird häufig von Psychiatern davor gewarnt, dass die Suizidzahlen unter der aktuellen, chronischen Stresssituation ansteigen könnten, bislang ist dies aber noch nicht valide belegbar. Man muss bei dieser Frage auch vorsichtig sein und darf nicht aus einzelnen lokalen oder regionalen Entwicklungen Schlüsse auf ganze Gesellschaften ziehen bzw. wird man die Veröffentlichung zuverlässiger Zahlen und die Ergebnisse der Suizidforschung abwarten müssen. Frühere Ergebnisse der Suizidforschung zeigen jedoch, dass die Suizidraten in schwerwiegenden Krisenzeiten wie Kriegen und Diktaturen relativ niedrig waren, nach Ende der Krisen allerdings stark angestiegen sind.“

Gesellschaftliche Verwerfungen?

Seine Einschätzung zu mittel- und langfristigen Folgen der Pandemie kommuniziert der Leiter der Psychiatrischen Abteilung am BKH Lienz, der in seiner Funktion als Ärztlicher Leiter auch dem Covid 19-Einsatz- und Krisenstab im Haus vorsteht, abschließend so: „Ich glaube, dass eine tiefgreifende Beeinträchtigung durch viele Gesellschaften gehen wird. Teilweise sind diese Veränderungen bereits sichtbar, wobei ich als ein Anzeichen dafür gewisse Polarisierungsprozesse werte. Diesbezüglich möchte ich auch noch darauf hinweisen, dass – wenn es so etwas wie ein kollektives Trauma gibt – die Corona-Pandemie, analog zur individuellen Traumatisierung, alle wesentlichen Voraussetzungen dafür erfüllt. Aus diesem Grund wird unsere Gesellschaft Mittel und Wege suchen MÜSSEN, wieder in ein Gleichgewicht zu kommen. Ein erster Schritt dahin könnte die – hoffentlich in absehbarer Zeit mögliche – Erfahrung sein, dass wir alle die Krise als ´bewältigbar´ erleben können.“

 

Text: E. & J. Hilgartner, Fotos: BKH Lienz, AdobeStock/Algecireño

01. Februar 2021 um