Ganzheitstherapeutin Ingrid Perg: Warum ist Achtsamkeit heute mehr denn je gefragt?

Ingrid Perg bietet in ihrer Praxis in Lienz einen neuen Fachbereich – MBSR – an. Wir haben nachgefragt, worum es bei dieser Meditationsform im Konkreten geht.

Was ist unter dem Begriff „Achtsamkeit“ genau zu verstehen?

Achtsamkeit ist nicht eine Zeit, in der wir uns „freischaufeln“ müssen, um zu meditieren, sondern Achtsamkeit ist vielmehr eine Zeit der Wahrnehmung im Alltag. Es geht darum, im gegenwärtigen Moment „zu sein“, sodass das Leben selbst zur Meditation wird.

Achtsamkeit bedeutet also, aufmerksam und sich der gegenwärtigen Erfahrung bewusst zu sein sowie ihr ohne Urteil zu begegnen?

Ja! Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Wahrnehmen und fördert die Klarheit in uns, sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks, wie sie gerade ist, zu akzeptieren. Gerade in der aktuellen Zeit ist dies ein wertvolles Tool, das jeder von uns nützen kann. Man ist der eigene Beobachter im Hier und Jetzt und beobachtet Körperempfindungen, Gefühle, Stimmungen und Gedanken, Bilder und Impulse, wie sie entstehen und wieder gehen. Dies geschieht zum Beispiel auch jetzt gerade in unserem Gespräch.

Achtsamkeit ist seit einiger Zeit in aller Munde. Geht es dabei um einen neuen Modetrend?

Nein. Ich glaube vielmehr, Achtsamkeit wird jetzt erstmals auch in unseren Breiten wahrgenommen und realisiert, was die wirkungsvollen Resultate sind. Entwickelt wurde die MBSR schon im Jahr 1979 vom Molekularbiologen Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn und seinem Team an der Medizinischen Fakultät der Universität von Massachusetts in Worcester. Kabat-Zinn hat ein achtwöchiges Schulungsprogramm im Gruppenformat erarbeitet, das komplementärmedizinisch, d.h. bei verschiedenen Krankheiten ergänzend zu anderen therapeutischen Verfahren angewendet werden kann. Die MBSR-Methode ist mittlerweile das am weitesten verbreitete und umfangreichste Programm zur Achtsamkeitsschulung. Lange Zeit wurde sie vorwiegend im klinischen Bereich eingesetzt, etwa bei Angststörungen, Depression und vor allem auch in der Schmerzprävention. Mittlerweile hat sie auch im deutschsprachigen Raum sowohl in Kliniken als auch in ambulanten Settings wie Praxen, Erwachsenenbildungseinrichtungen oder in der betrieblichen Gesundheitsförderung Eingang gefunden. Viele große Firmen wie Google, Bosch, SAP oder BASF nützen MBSR für ihre Mitarbeiter-Innen, denn Achtsamkeit steigert nicht nur die Kreativität, sie schafft auch Gesundheit und ein menschliches Miteinander. Außerdem kann man damit nachweislich auch Krankenstände reduzieren. Auch im Leistungssport wird Achtsamkeit mittlerweile ins Trainingsprogramm integriert, um sicherzustellen, dass im Moment des Wettkampfes hohe Konzentration und Fokussierung gegeben sind.

Wie wird die Ganzheitstherapie im Praxisalltag mit Achtsamkeit verbunden?

Meine zweijährige Ausbildung in MBSR in Wien hat mir eine wunderbare weitere Möglichkeit für meine Praxis eröffnet. Ich arbeite entsprechend den Anliegen der Menschen, die mich aufsuchen. Ob ich postoperativ, bei körperlichen Beschwerden oder in der psychologischen Beratung tätig bin – in jedem dieser Bereiche kann ich die Achtsamkeit sehr gut einfließen lassen. Menschen wieder in das Hier und Jetzt zu begleiten, fördert die Gesundheit und das Akzeptieren des momentanen Zustandes. Dies wiederum löst den Widerstand auf, der in uns den meisten Stress erzeugt. In der psychologischen Beratung arbeite ich tieferliegend mit Bindung und Trauma. Dies sind Ausgangspunkte, die unser ganzes Leben weitgehend beeinflussen. Wenn wir von Anfang an keine gesunde Bindung erfahren oder traumatische Erlebnisse wie Verlust, Unfälle, Geburtstrauma oder Schock erlebt haben, werden diese Ereignisse als Überlebensstrategie in unserer Psyche abgespalten. Dabei handelt es sich um einen hochintelligenten Schutzmechanismus, der Betroffene diese Erfahrungen hat überleben lassen. Dabei werden Erinnerungen, Gefühle und Körperwahrnehmungen des Erlebten unterdrückt und ausgeblendet. Viele zeigen dann oft viele Jahre später Symptome in Form von physischen und psychischen Erkrankungen. In der Aufarbeitung dieser traumatischen Erlebnisse hilft die Achtsamkeit im Hier und Jetzt, ohne im Verurteilen und Opfer-Sein weiter stecken zu bleiben. Es ist wichtig, die Realität der Vergangenheit zu erkennen, um die Gegenwart zu verstehen. Daraus kann dann eigenständig die Zukunft resultieren.

Was unterscheidet die Achtsamkeitspraxis von üblichen Entspannungsmethoden?

Übt man, die Welt und die Erfahrungen, die man macht, mit einer Haltung der Achtsamkeit wahrzunehmen, dann hat dies häufig eine entspannende Wirkung. Wenn man entspannt ist, wirkt sich dies in der Regel positiv auf Gemüt und Körper aus. Dies muss aber nicht immer so sein. Die Achtsamkeit auf alle Bereiche unseres Lebens zu lenken, auch auf schwierige, wie gerade derzeit, kann auch bedeuten, dass wir Unzufriedenheit und Stress erstmal viel deutlicher wahrnehmen als bisher. Dies eröffnet uns die Chance, alte und jetzige Situationen nicht mehr „schön zu reden“ oder einen Filter darüber legen zu müssen, sondern sie im Jetztzustand zu akzeptieren und authentisch „da sein“ zu dürfen.

 

Nähere Infos und Terminvereinbarungen:
www.ingridperg.at

 

Foto: Osttirol heute

01. Februar 2021 um