Politologe Univ.-Prof. Dr. Peter Filzmaier: „Europa geht uns alle an!“

Aus Anlass der bevorstehenden EU-Wahlen stellten wir dem bekannten Analytiker und politischen Kommentator 14 Fragen zu Hintergründen und Bedeutung des Urnengangs.

Vom 23. bis 26. Mai 2019 werden in allen EU-Mitgliedstaaten die alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament abgehalten. Der Sitz des EU-Parlamentes befindet sich in Brüssel, Straßburg und Luxemburg, Österreich stellte zuletzt 18 der 751 Abgeordnetensitze. Seit dem EU-Beitritt 1995 können Frau und Herr Österreicher am 26. Mai 2019 zum bereits sechsten Mal über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments mitbestimmen. Zur Wahl stehen sieben Parteien: Neben ÖVP, SPÖ, FPÖ und den Grünen sind dies die Neos, die KPÖ sowie die Initiative Johannes Voggenhuber. Zuletzt – beim Urnengang im Jahre 2014 – lag die Wahlbeteiligung unter 46 Prozent. Warum dies so ist, wollten wir als erstes von Univ.-Prof. Dr. Peter Filzmaier wissen.

 

Peter Filzmaier: „Ich bin ein EU-Befürworter, und vor diesem Hintergrund habe ich politikwissenschaftlich und privat dieselben zwei Wünsche und das unabhängig davon, welche Meinung jemand zur EU vertritt: Erstens eine von gegenseitigem Respekt getragene Versachlichung der politischen Diskussion, in der allzu oft Halbwahrheiten, Unterstellungen oder gar Beleidigungen vorkommen. Und zweitens, dass der Anteil jener, die gar keine Meinung haben und die das wichtige Thema EU ignorieren, viel geringer wird!“

 

Herr Professor, an der 1. Wahl von österreichischen Abgeordneten zum EU-Parlament 1996 nahmen 67,73 Prozent der Wahlberechtigten teil. Seitdem ist die Wahlbeteiligung sukzessive zurückgegangen. Wie erklären Sie sich das?

Peter Filzmaier: Viele Wähler fühlen sich als Bürger ihrer Gemeinde und ihres Bundeslandes sowie als Österreicher. Nur wenige sagen aber „Ich bin Europäerin, ich bin Europäer!“ Wer kaum europäische Identität als Empfindung hat, dem fehlt oft auch die emotionale Bindung zur EU-Wahl. Zugleich messen unsere Parteien machtpolitisch der Europäischen Parlamentswahl eine geringe Bedeutung zu und engagieren sich weniger als bei nationalen Wahlen. Wer da in die Bundesregierung kommt, hat über seine Mitgliedschaft im Europäischen Rat auch europapolitisch viel Einfluss. Ein Abgeordneter mehr oder weniger im EU-Parlament macht hingegen das „Machtkraut“ nicht fett. In der Politikwissenschaft spricht man daher von „Nebenwahlkämpfen“ oder „Wahlen zweiter Ordnung“. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs bekundet übrigens nur mehr weniger als die Hälfte der wahlberechtigten Österreicher, zur Wahl gehen zu wollen. Das kann sich natürlich bis zum Wahltag noch ändern. Doch müssen wir davon ausgehen, dass die Wahlbeteiligung, auch wenn sie vielleicht etwas steigen mag, im Vergleich zu allen anderen Urnengängen auf extrem niedrigem Niveau verbleibt.

Wo sehen Sie weitere Ursachen? Spielt die geografische Entfernung zu den Machtstellen der EU eine Rolle?

Die Kilometerzahl dorthin ist sicherlich nicht das Problem, vielmehr ist es die Entfernung in den Köpfen. Die EU selbst kommuniziert einfach schlecht, was und warum in Brüssel gemacht wird. Schuld sind aber auch unsere Politiker, für die es manchmal geradezu ein Volkssport ist, alles Gute als nationale Leistung darzustellen, und alles was schiefläuft, der EU in die Schuhe zu schieben. Ein Beispiel: Glauben wir ernsthaft, dass der Kleinstaat Österreich die weltweite Wirtschafts- und Währungskrise vor ein paar Jahren ganz alleine erfolgreich bekämpft hat?

Wie würden Sie all jenen, die derzeit nicht zur Wahl gehen wollen, die Bedeutung dieses Urnenganges erklären? Können Sie uns, kurz zusammengefasst, zehn gute Gründe für Europa nennen?

Der Satz „Die EU betrifft mich nicht!“, das ist einfach Unsinn! Wenn Sie atmen, so werden Schadstoffgrenzwerte von der EU vorgegeben. Wollen Sie irgendwo Wasser trinken, ist die Trinkwasserrichtlinie der EU wichtig – und auch, ob die Wasserversorgung privatisiert werden soll oder nicht. Also geht die EU Sie nur dann nichts an, wenn Sie weder atmen noch trinken. Dann sind Sie aber tot! Sie sehen, es ist also immer besser parlamentarische Entscheidungen für Regelungen, die einen so oder so betreffen, durch seine Stimme für diese oder jene Partei mitzubestimmen, anstatt dies anderen zu überlassen. Ach so, Sie wollten ja noch acht weitere gute Gründe: Wo Sie selbst arbeiten können, dass Fußballprofis und andere Sportler nach Vertragsablauf ablösefrei sein müssen, wie Sie reisen, ob Sie beim Einkaufen in einem Nachbarland Zölle zahlen müssen oder nicht, wenn Sie nach Online-Einkäufen einen Verbraucherschutz benötigen, dass für gesundheitsschädliches Rauchen keine Medienwerbung gemacht werden darf, wie österreichische Firmen ihre Produkte ins Ausland exportieren können und umgekehrt, welche Umweltschutzpolitik gemacht wird – all das hat direkt mit der EU zu tun!

In Lienz hängt ein Plakat der Tiroler ÖVP mit dem Slogan „Die EU braucht Tirol“. Brauchen nicht umgekehrt die Tiroler die EU?

Ich bringe allen Tirolern noch ein Beispiel: Haben Sie jemals im Ausland oder grenznahen Regionen telefoniert oder sind mit dem Handy online gewesen und wurden durch eine aufgrund der Roamingkosten hohe Handyrechnung unangenehm überrascht? Es ist ausschließlich dem Europäischen Parlament zu verdanken, dass Roaming abgeschafft wurde. Und Transit hin oder her – gerade Tirol würde angesichts seiner geographischen Lage Gefahr laufen, wirtschaftlich und touristisch ins Hintertreffen zu geraten, wären wir nicht Mitglied der EU!

Warum forcieren dann so viele Politiker und Parteien den Eindruck, die EU-Politik wäre eine Außenpolitik?

Österreichische Parteien werden ausschließlich in Österreich gewählt. Sogar bei der EU-Wahl ist das so. In Brüssel und mit 27 anderen Mitgliedsländern tolle Arbeit als Innenpolitiker zu leisten und dementsprechend überall anerkannt zu sein, bringt „daheim“ keine einzige zusätzliche Wählerstimme. Noch Fragen? Sinngemäß gilt dies natürlich genauso für Landesparteien, die nur in ihrem Bundesland beliebt sein wollen, und für jeden Bürgermeister, der bloß auf die Stimmen der jeweiligen Gemeindebürger schaut.

Wie sehen Sie den bisherigen Auftritt der wahlwerbenden Parteien in Österreich? Was fällt besonders auf?

Rein aus der Sicht des Forschers, der sich als Fachgebiet mit politischer Kommunikation beschäftigt, gibt es natürlich eine Menge spannender Aspekte. Beispielsweise versucht die ÖVP durch ein internes Vorzugsstimmenrennen ihrer Kandidaten die Wählermobilisierung voranzutreiben. Die FPÖ wiederum übt sich mehr in sprachlicher Radikalität, damit möglichst keiner ihrer Anhänger uninteressiert am Wohnzimmersofa bleibt, anstatt ins Wahllokal zu gehen. Und der Grüne Werner Kogler und der Ex-Grüne Johannes Voggenhuber verzichten zwar sorgsam auf persönliche Angriffe, doch führen sie zwei Parteilisten an, deren inhaltliche Unterschiede man mit der Lupe suchen muss. Das hatten wir so auch noch nie.

Wie wirkt sich die zunehmend heftige Kontroverse insbesondere zwischen der FPÖ, sprich Harald Vilimsky, und den anderen EU-Wahl-Spitzenkandidaten aus?

Die FPÖ hat natürlich beinahe ein Stimmenmonopol bei den EU-Gegnern. Alle anderen Parteien sind viel mehr pro Europa eingestellt. Wen außer FPÖ sollte also jemand, der die EU ablehnt, wählen? Das Problem der FPÖ könnte jedoch eine andere Frage sein: Warum sollte jemand, dem die ganze EU zu dumm erscheint, ausgerechnet unbedingt zur EU-Wahl hingehen wollen?

Spielen Sachthemen überhaupt eine Rolle oder wird vielmehr eine gezielte Emotionalisierung als Mittel eingesetzt, um die eigenen Wähler zu mobilisieren?

Es gibt eine aktuelle Studie der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, die besagt, dass bei jenen Themen, um die sich die EU laut Meinung der heimischen Wähler besonders kümmern sollte, etwas überraschend Umwelt- und Klimaschutz an erster Stelle stehen. Erst dahinter kommt der Dauerbrenner „Zuwanderung“. Allerdings muss man dies etwas relativieren: Einerseits sieht es je nach Parteipräferenz der Wähler anders aus: Unter deklarierten Grünanhängern waren und sind Umwelt  und Klima immer auf Platz eins gewesen, während es bei regelmäßigen FPÖ-Wählern seit Jahren nur drei Topthemen, nämlich „Zuwanderung, Zuwanderung und Zuwanderung“, gibt. Andererseits sind Umwelt und Klima ein bisschen ein „Ja, eh“-Thema. Niemand vertritt die Gegenposition, man müsse mehr „Umweltschwein“ sein. Ob das Thema aber jenseits von „Ja, eh“ auch wirklich zum EU-Wahlmotiv und Mobilisierungsfaktor wird, das ist aus meiner Sicht noch mehr als unsicher.

Die Manipulation von Wählern durch soziale Medien ist nicht erst seit Trumps Wahl zum US-Präsidenten hinlänglich bekannt. Orten Sie Ähnliches auch im aktuellen EU-Wahlkampf?

Während wir hier miteinander reden, ist wenigstens noch kein systematischer und großflächiger Einflussversuch bekannt. Die EU-Kommission hat aber zum Beispiel vor Desinformationskampagnen mit gefälschten Politikervideos gewarnt. Neue Technologien machen es möglich, Videos täuschend echt zu fälschen. Stimmen und Gesichter von Politikern könnten in beliebige Zusammenhänge montiert werden und so über soziale Medien verbreitet werden. Damit kann man jedem jede beliebige Aussage in den Mund legen.

Italien, Europa, die Welt – derzeit scheint vieles aus den Fugen zu geraten. Ist im Hinblick auf diese veränderte welt-, aber auch innereuropäische Situation der bevorstehende Wahlgang wichtiger als jener vor fünf Jahren?

Hm. Da wäre ich vorsichtig. Was wäre denn der korrekte wissenschaftliche Maßstab für so eine Bewertung, welche Wahl am wichtigsten ist? Die EU-Wahlen 2019 sind sehr wichtig, keine Frage. Doch das waren sie auch 2009 und 2014, als es darum ging, ob ein wirtschaftlicher Bankrott mehrerer Mitgliedsstaaten und eine totale Geldentwertung abgewendet werden können.

Das Nationale gehört zur Geschichte Europas, viele Kriege der Vergangenheit stehen damit im Konnex. Warum ist das nationalstaatliche Denken, von dem so mancher glaubte, es überwunden zu haben, trotzdem wieder so stark da?

Das hat sicher auch mit der Sehnsucht nach einer überschaubaren Welt und scheinbar einfachen Lösungen zu tun. Man würde gerne Probleme auf Österreich beschränken und diese hier für sich aus dem Weg schaffen können. Doch das spielt es nun einmal nicht! Umweltprobleme bis hin zum Ozonloch etwa machen sicher nicht an einer Staatsgrenze halt und eine Weltwirtschaftskrise, der Wunsch nach Migration oder gar Flucht und Asyl auch nicht.

Könnte der europaweit zunehmende Rechtspopulismus – inklusive der derzeit laufenden Bemühungen um ein Rechts-Außen-Bündnis von Seiten von Salvini & Co – zur Zerreißprobe für die EU werden?

Ja, durchaus! Natürlich ist es zulässig, gegen die EU zu sein, natürlich kann man auch wie die FPÖ, die diesem Bündnis angehören will, ein „Europa der Vaterländer“ als Rückkehr zur Rolle der Nationalstaaten wie im vorigen Jahrhundert wollen. Über die Vor- und Nachteile dieses Standpunktes könnte man ja sachlich diskutieren. Doch ich sehe hier ein Grundsatzproblem: Die EU ist laut ihren Verträgen eine supranationale Organisation und nicht bloß international. Supranationalität bedeutet Überstaatlichkeit und ist dadurch gekennzeichnet, dass die EU eine Ebene über der Nation ist, also über dem Nationalstaat steht. Nur so kann es funktionieren, dass EU-Entscheidungen auch befolgt werden. Dies abzulehnen, ist das Recht der Rechten, nur widerspricht es dem Wesen und den Verträgen der EU. Als logische Konsequenz wäre also entweder ein Austritt oder die Abschaffung der jetzigen EU anzustreben. Wenn es also dazu kommt, dass in einem Parlament eine größere Zahl von Parteien „nichts wie raus“ oder die EU de facto abschaffen will, dann steht die Europäische Union wirklich vor einer Zerreißprobe.

Sehen Sie eine existenzielle Krise der westlichen Demokratie?

Eine Existenzkrise nein, jedoch eine große Krise der Demokratiequalität und der Qualität demokratischer Diskussionen!

Was ist, abschließend gefragt, für Sie als Politikwissenschaftler der größte Pluspunkt der EU?

So sehr ich als Hochschullehrer der Verlockung zu erliegen drohe, hier auf die Bildungsprogramme zu verweisen – objektiv ist dies natürlich im Laufe der Geschichte das Friedensprojekt. Die Vorläufer der EU wurden nach einer langen Zeit blutiger Kriege der europäischen Nationalstaaten gegründet, und um insbesondere den deutsch-französischen Konflikt zu befrieden. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde der Ostblock, dem man früher mit Atomraketen gegenüberstand, in die EU integriert. Man kann also ohne jede Übertreibung von einer sensationellen Erfolgsgeschichte des Friedensprojektes EU-ropa sprechen!

 

Interview: Elisabeth Hilgartner, Fotos: A&W, AdobeStock/Grecaud Paul

09. Mai 2019 um